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Prägnanz

Anton Weberns sechs Stücke für Orchester op. 6

In meiner Anfangszeit als Musikredakteur habe ich eine Weile in einer WG gelebt. Einer meiner früheren Mitbewohner hat mir damals erzählt, dass er mit seinen Eltern schon ein paarmal im Konzert war. Er fand es wohl ganz nett. Aber dass in klassischer Musik Motive immer weitergesponnen werden – das sei halt nicht so seins.

Kürze

Ich kann das nachvollziehen. Vielleicht übertreiben es Komponisten wirklich manchmal, wenn es darum geht, ihre Motive nach allen Regeln der Kunst weiterzuentwickeln.

Gustav Mahlers Spezialität zum Beispiel waren Symphonien mit Überlänge, die schon mal mehr als 90 Minuten dauern. Auch bei den Mitwirkenden verfuhr er großzügig: Seine Achte trägt sogar den Beinamen „Symphonie der Tausend“. So viele Menschen sind zwar gar nicht mit von der Partie. Sehr wohl aufgeboten aber hat Mahler ein riesiges Orchester, doppelt so viele Solopartien für Gesang wie in Beethovens Neunter, dazu 2 Chöre, Knabenchor und ein Fernorchester.

Mein Mitbewohner wäre bei einer Aufführung dieser Symphonie wahrscheinlich lang vor Schluss gegangen. Vielleicht hätte ich ihn damals fragen sollen, ob er schon von Anton Webern gehört hat. Der kannte Mahlers Musik gut, war aber auf Kürze abonniert. Er war der wohl am wenigsten langatmige Komponist der jüngeren Musikgeschichte.

Orchester

Die erste Fassung seiner Stücke op. 6 ist 1909 entstanden, zwei Jahre vor Gustav Mahlers Tod in Wien. Ähnlich wie für mehrere von Mahlers Symphonien ist auch für Anton Weberns Stücke op. 6 ein sehr großes Orchester vorgeschrieben: Außer mächtigen Streichergruppen fordert Webern in der Erstfassung über 30 Bläser, das ist eine ordentliche Blaskapelle. Dazu kommen 2 Harfen, Celesta und Schlagzeug für 8 (!) Spieler:innen.

Dass sich aus einem solchen Mammutorchester eine Fülle an Klangfarben und Ausdrucksschattierungen herauskitzeln lässt, ist wenig überraschend. Webern allerdings hat zwar groß gedacht, aber kurz komponiert.

Dieses Werk umfasst insgesamt weniger als eine Viertelstunde. Und zwei dieser überbordenden Stücke dauern jeweils nur rund eine Minute!

Höreindrücke

Das Tolle an dieser Musik ist, dass alles in ihr dichter gedrängt und intensiver wirkt als gewöhnlich: die Übergänge, die Pausen, die Unterschiede in der Lautstärke, im Tempo, in den Rhythmen und in den Klangfarben. Trotzdem hat Webern es geschafft, Platz für uns Hörer:innen mitzukomponieren.

Als ich diese Stücke am Anfang meines Studiums zum ersten Mal live gehört habe, hat mir meine Erinnerung einen Streich gespielt: Ich habe angefangen, Höreindrücke aus der Musik von Haydn oder Schubert herbei zu assoziieren. Dabei hätte ich nicht sagen können, ob ich irgendein konkretes Motiv dieser Komponisten tatsächlich wiedererkenne. Aber ich habe in dem Moment plötzlich eine Ahnung davon bekommen, dass Musikgeschichte auch eine Geschichte darüber erzählt, was wir selbst als Hörer:innen bisher erlebt haben.

In dieser Musik gibt es viel zu entdecken. Vielleicht hast Du ja Lust, einmal hineinzuhören. Dauert auch nicht lang.

Viel Spaß dabei.

Fußnoten


Motiv

Ein Motiv ist eine kurze, oft schlüssig klingende Tongruppe. Sie lässt sich als ein Schlüssel verwenden, um ein Stück beim Hören besser nachvollziehen zu können. Das Ta-ta-ta-taa in Beethovens Fünfter zum Beispiel kennst Du bestimmt. Hier ein paar genauere Definitionen:

https://www.musikanalyse.net/downloadfiles/Formenlehre-Motivdefinitionen.pdf

Webern

Webern selbst hat die Stücke op. 6 u. a. autobiographisch gedeutet:  

https://www.universaledition.com/anton-webern-762/werke/6-stucke-op-6-861

Hier gibt’s ausführliche Informationen zu Anton Weberns Leben und Schaffen:

https://de.mahlerfoundation.org/mahler/Zeitgenossen/anton-webern/

Watschenkonzert

Die Stücke für Orchester op. 6 wurden am 31. März 1913 uraufgeführt. Es gab Tumulte…:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/100-jahre-watschenkonzert.1091.de.html?dram:article_id=245076

https://de.wikipedia.org/wiki/Skandalkonzert_1913

Akustik Alpensinfonie Amerika Anton Webern Arrangement Beethoven Berge Berlioz Beschleunigung Blechbläser Brahms Clara Schumann Dirigentenwettbewerb Dmitri Schostakowitsch Eric Ericson Erinnerung Finale Franui Johann Sebastian Bach Katholizismus Klavier Klavierkonzert Kommunikation Komponistinnen Leichtigkeit Lied Ligeti Mahler Mahler Competition Melodien Ordnung Passacaglia Pastorale Programmmusik Scherzo Schubert Stille Strauss Strawinski Symmetrie Symphonie Symphonie Nr. 1 Symphonie Nr. 3 Symphonie Nr. 4 Symphonie Nr. 5 Symphonie Nr. 6 Symphonie Nr. 7 Symphonie Nr. 8 Violinkonzert Vivaldi

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