György Ligeti und seine Musica ricercata
In der Einleitung zu ihrem Buch Der eiserne Vorhang erlaubt sich die amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum einen kleinen Seitenhieb gegen Hannah Arendt. Applebaum zeichnet – so ihr Untertitel – Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956 nach. Eine Geschichte, die Arendt in ihrem politischen Standardwerk wenig interessiert:
»Es war, als spiele Moskau«, so zitiert Applebaum aus Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, »hastig und zusammengedrängt, alle Phasen von der Oktoberrevolution bis zum Auftreten der totalitären Diktatur noch einmal durch. Die Geschichte ist daher, obschon für sich gesehen unsäglich grauenvoll, ziemlich uninteressant und im Übrigen auch ziemlich gleichförmig.«
Dem widerspricht Applebaum. Ihre Kritik gilt einer Position und einer Blickrichtung, die sich von den Peripherien des Sowjetkommunismus wegwendet, weil dort anscheinend sowieso nur passiert, was zuvor in dessen Zentrum vorgezeichnet worden ist.
György Ligeti
Für den Komponisten György Ligeti waren die Jahre, über die Anne Applebaum schreibt, eine prägende Zeit: 1944 wird er kurzfristig noch zum Arbeitsdienst einberufen und muss fortan unter erbärmlichen Bedingungen schwere und teils lebensgefährliche körperliche Arbeit leisten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebt er in Budapest – fern von Moskau, aber auch vom Kulturleben des Westens.
Nachdem der ungarische Aufstand des Jahres 1956 von den Sowjettruppen niedergeschlagen worden ist, flieht Ligeti nach Wien. Wenig später zieht es ihn nach Köln, von 1959 bis 1969 lebt er in Wien, später in Berlin, schließlich als Professor in Hamburg. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er auch wieder in Wien, wo er 2006 gestorben ist.
Nach dem Krieg – Ligeti in Budapest
Geboren wurde Ligeti am 28. Mai 1923 in Dicsőszentmárton in Siebenbürgen (Rumänien). Seit 1929 lebt er mit seiner Familie in Cluj. Dort geht er zur Schule. Mathematik und Physik kann er dann wegen seiner jüdischen Herkunft nicht studieren.
Dass er den Zweiten Weltkrieg überlebt, hat er glücklichen Zufällen zu verdanken. Sein Vater und sein Bruder starben im KZ. György Ligeti wurde 1944 zum Arbeitsdienst verpflichtet. Er arbeitete unter schlimmen Bedingungen, bis ihm schließlich die Flucht gelang.
In einem Gespräch mit Eckhard Roelcke hat Ligeti den sowjetischen Einfluss in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Budapest beschrieben, wo er bald unter anderem Komposition studierte:
»Die ersten drei Jahre waren total frei. Das war unglaublich, Wir hatten kaum etwas zu essen, die Stadt war zum Teil zerstört, aber es gab eine wunderbare Kultur. 1948 war dies innerhalb von ein paar Monaten durch die kommunistischen … Vorschriften vernichtet. Wir lebten in einer musikalischen Umgebung, aber ohne Neue Musik, die ja von den Sowjets verboten war. Erst die Nazi-Diktatur, dann die kommunistische Diktatur. Das betraf die Musik genauso wie die Literatur und die Malerei. Bilder wurden im Kunstmuseum abgehängt, von den Impressionisten an war alles verschwunden« (Roelcke, S. 66).
Zwischenzustand – Ligeti in Budapest II
Für Ligeti waren die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein etwas seltsamer Zwischenzustand. Nach der kurzen großen Freiheit, die er oben beschrieben hat, war Ungarn laut Ligeti ab 1948/49 zu einer Diktatur geworden, die Künstler in eine »total perverse Situation« zwang: »Wir waren herausgehoben und privilegiert und gleichzeitig Sklaven… Wir waren verboten und gehörten zugleich zur Elite« (Roelcke, S. 69).
Herausgehoben waren die Komponisten, so schreibt Ligeti, deswegen, weil sie internationale Zeitschriften lesen, verbotene Filme sehen und gelegentlich in beheizten Ferienresidenzen wohnen durften. Die gutmütigen Damen in der Verwaltung waren zwar in der kommunistischen Partei, hatten aber anscheinend ein Herz für Komponisten wie Ligeti.
Sklaven waren die Komponisten, wenn man die Analogie akzeptabel findet, weil sie zwar komponieren durften, aber zugleich als Hilfsarbeiter in Fabriken arbeiten mussten, weil Arbeitslosigkeit offiziell nicht existierte. Verpflichtend war die Mitgliedschaft im Musikerverein. Wer dort nicht eintrat, konnte allenfalls für die Schublade komponieren. Und wer Mitglied war, durfte seine Stücke dort einmal aufführen, bevor sie dann verboten wurden und in der Versenkung verschwanden (vgl. dazu und zum Folgenden Roelcke, S. 68-74).
Verboten
Verboten war ohnehin viel: Winnie the Poo war der Führung genau so wenig genehm wie Don Quijote. Kirchenmusik entsprach auch nicht den Vorstellungen der sozialistischen Chefästhetiker. Von Ligeti war alles verboten, was keine Bearbeitung von Volksliedern war, selbst »Stücke«, so Ligeti, »die viel zahmer waren als Bartók« (Roelcke, S. 69). Aber von Bartók war natürlich auch so Einiges verboten – mal abgesehen von Volksliedbearbeitungen. Ganz zu schweigen von der Musik Debussys und Ravels, die Ligeti aus früheren Zeiten kannte, die aber jetzt verboten war. Und noch mehr zu schweigen von Schönberg, Webern, Berg. Die nämlich waren laut Ligeti »schon immer verboten« (Roelcke, S. 67).
Immerhin gab es damals, so erinnert sich Ligeti, noch keine Abhörmikrofone.
»Das kam alles erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, da war ich schon geflohen. Wir wußten, daß man am Telefon vorsichtig sein mußte. Alle Telefongespräche wurden auf Tonband aufgenommen. Stellen Sie sich diesen Aufwand vor!« (Roelcke, S. 70f.)
Aber die Radiosender konnte man stören. Schließlich sollten keine ausländischen Nachrichten nach Ungarn dringen. Da auch die Musiksendungen total verrauscht durch die Lautsprecher kamen, erhielt Ligeti einen stark verfremdeten Eindruck der Kompositionen, die damals gesendet wurden: von Messiaen, Dallapiccola oder Henze. »Nur die hohen Töne der Piccoloflöte und des Glockenspiels durchdrangen das Rauschen« (Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 158).
Musica ricercata
Als Ligeti in den Jahren 1950 bis 1953 seine Musica ricercata geschrieben hat, wollte er sich – ohne eine klare Richtung vor sich zu sehen – von früheren Einflüssen lösen. Seine zuvor geschriebenen Werke klangen ihm zu sehr nach Béla Bartók (und Igor Strawinski):
»Um 1950 wurde mir klar«, sagt Ligeti, »daß eine Weiterentwicklung des nachbartókschen Stils, in dem ich bis dahin komponiert hatte, mich nicht vorwärtsbringen würde. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt und lebte in Budapest völlig isoliert von allen Ideen, Trends und Techniken der Komposition, die sich nach dem Krieg in Westeuropa entwickelt hatten. 1951 begann ich, mit einfachen rhythmischen und klanglichen Strukturen zu experimentieren, um eine neue Musik sozusagen aus dem Nichts aufzubauen.« (Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 154)
Nach Bartók zu klingen ist jetzt nicht an sich schon ein Armutszeugnis. Ligeti aber befand sich damals an einem Punkt in seiner Laufbahn, an dem er sich eigenständig weiterentwickeln wollte. Er machte Tabula rasa: »Alle Musik, die ich bis dahin kannte, betrachtete ich als irrelevant für mich« (Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 154).
Bei 1 anfangen
György Ligeti fing bei Null nochmal an, oder genauer gesagt: bei eins. Für die 11 Klavierstücke unter dem Titel Musica ricercata machte er es sich zur Regel, zunächst mit nur einem einzigen Ton zu arbeiten. Das gesamte erste Stück beschränkt sich nur auf den Ton A und dessen Oktavtranspositionen. Erst am Ende dieses Stücks kommt ein weiterer Ton hinzu.
Im zweiten Stück hat Ligeti zunächst mit zwei, und gegen Ende mit drei Tönen experimentiert. Und nach diesem Schema geht es weiter: Im dritten Stück arbeitet Ligeti mit vier Tönen – diesmal ist es ein Stück in C, mit Durterz E und Mollterz Es –, im vierten gibt er sich fünf Töne, bis er im elften Stück zwölf Töne zur Verfügung hat, aus denen er allerdings keine Zwölftonmusik à la Schönberg komponiert. Dessen Musik kannte Ligeti Anfang der 50er Jahre nämlich noch nicht. Sie war, wir erinnern uns, verboten.
›Hörspiel‹
Ligetis Musik lässt sich als ein sehr anspruchsvolles, aber auch überaus unterhaltsames und kurzweiliges ›Hörspiel‹ in 11 + 1 Leveln hören: Wenn Du genau hinhörst, kannst Du Deine Tonvorstellung trainieren. Relativ einfach ›einzufangen‹ ist der eine Ton, der die Grundlage für das erste Stück bildet. Beim zweiten Stück wird’s um einen Ton schwieriger:
Die beiden Töne, aus denen es zunächst besteht, befinden sich im Abstand einer kleinen Sekund zueinander. Das ist der kleinste mögliche Abstand, den zwei Töne auf der Klaviatur haben können: der Abstand einer zur direkt daneben liegenden Taste. Wenn dann in diesem zweiten Stück der dritte Ton einsetzt, ist das auch deswegen sehr wirkungsvoll, weil sich dieser Ton wieder nur im Abstand einer kleinen Sekunde über dem höheren der bisher verwendeten Töne befindet.
Es wird, je mehr Töne ins Spiel kommen, nicht einfacher, den Überblick zu behalten. Aber indem Ligeti experimentiert, verschafft er uns eine Möglichkeit, zumindest ein Stück weit mit ihm mitzuhören.
Vielleicht bekommst Du ein leises Gespür für den Abstand der verwendeten Töne untereinander, sei er so klein wie eine kleine Sekund (siehe oben) oder so groß wie eine Oktave (Stück Nr. 1): Die Oktave über einem Ton ist doppelt so hoch, die Oktave unter ihm doppelt so niedrig wie er.
Vom Soundtrack zu Schubert
Das gesamte Stück mit Noten gibt es hier:
Oktaven hörst Du gleich am Anfang des ersten Stücks, wenn Pianist oder Pianistin ein sogenanntes Tremolo aus den Handgelenken wackelt: Oberer und unterer Ton der jeweiligen Oktave erklingen in schneller Folge abwechselnd.
Das zweite Stück kennst Du vielleicht, falls Du Stanley Kubricks Eyes Wide Shut gesehen hast. Kubrick hat in mehreren seiner Filme Kompositionen Ligetis verwendet, unter anderem eben dieses Stück aus lauter klagenden Seufzern.
Das dritte Stück klingt ein bisschen wie eine im doppelten Tempo abgespielte Bläserfanfare. Das vierte erinnert an die Walzer von Dmitri Schostakowitsch und – noch ferner – die von Franz Schubert. In den Noten heißt es, »das Stück kann frei interpretiert werden – zuweilen langsamer –, … wie der Leierkastenspieler sein Instrument kurbelt.«
Melodie und Begleitung bei Schubert und Chopin
Eines der berühmtesten Stücke über einen Leierkastenspieler überhaupt ist das letzte Lied aus Schuberts Liederzyklus Winterreise, ein eisiges, im langsamen Dreiertakt immer wieder stockendes Stück, das die vor Kälte starren Finger des Leiermanns so gekonnt wie einprägsam und unheimlich in Szene setzt:
Näher an der Machart von Ligetis Walzer aber ist ein anderes berühmtes Stück, nämlich Chopins sog. Minutenwalzer:
Hörst Du, wie Melodie und Begleitung jeweils ihre ganz eigene Rolle spielen und sich dabei perfekt ergänzen? Im Vergleich zum Stück von Chopin wird wahrscheinlich auch deutlich, dass Ligetis Tonvorrat begrenzt ist. Ohne den Vergleich würde das eventuell gar nicht richtig auffallen – wenn man es nicht vorher wüsste.
Musica ricercata, Nr. 5 bis 8
Das fünfte Stück nimmt die intervallische Spannung und das langsame Tempo des zweiten Stücks wieder auf, greift aber inzwischen, dem Konzept der gesamten Komposition gemäß, auf einen größeren Tonvorrat zurück.
Jazzig wird’s im sechsten, vage minimal-music-artig im siebten. Dessen repetitive Stimme klingt in der linken Hand so beiläufig wie ein perpetuum mobile, als wäre das Klavier auf Autopilot geschaltet – und über der linken Hand erhebt sich wunderbar eine ruhevoll-meditative Melodie in der rechten…
Wie gemeißelt dagegen ist das achte Stück. In einer Version für E-Gitarre würde das wahrscheinlich auch gut funktionieren.
Ricercare heißt suchen
Das neunte Stück ist dem verehrten Béla Bartók gewidmet. Beinahe ist es schade, dass Ligeti inzwischen fast alle Töne unserer wohltemperierten chromatischen Tonleiter verwendet, also so gut wie alle weißen und schwarzen Tasten, wenn auch nicht in sämtlichen Oktavlagen. Im zehnten Stück ist besonders gut zu hören, dass es auf der Klaviertastatur allmählich eng wird – vor allem in den Tontrauben kurz vor Schluss.
Das letzte Stück hat Ligeti später als eine Hommage an Girolamo Frescobaldi bezeichnet, einen der wichtigsten barocken Komponisten von Ricercaren. Ein Ricercar (von ital. ricercare: suchen) ist eine Vorform der Fuge, einer der strengsten Formen, mit denen sich Komponistinnen und Komponisten in den vergangenen Jahrhunderten herumgeschlagen haben, um ihr Können unter Beweis zu stellen.
Eine heiße Spur
in Ligetis Komposition bildet die zunächst abstrakte Frage, wie er in der Musica ricercata Ordnung schafft.
Seine Grundidee ist so einfach wie faszinierend: Indem er sich strikt auf einen Tonvorrat beschränkt, der sich wie oben beschrieben nur schrittweise erweitert, zwingt er sich, aus den ihm jeweils verfügbaren Tönen herauszuholen, was nur geht.
Er fängt mit dem an, was so selbstverständlich scheint, dass man es gar nicht mehr hinterfragen muss: dem einzelnen Ton. Als vereinzelter Ton, der eben nicht immer schon Bestandteil größerer musikalischer Zusammenhänge ist, rückt er bei Ligeti von der Peripherie direkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, Ligeti dreht ihn, wendet ihn, hält ihn quasi ins Licht und schaut ihn sich genauestens an. Er vervielfältigt ihn etc.
Die arithmetische Spielerei ist dabei kein Selbstzweck. Sie dient der Reduktion der Mittel. Alles, was mit Tonhöhen zu tun hat, fällt erst einmal weg (Oktavierungen ausgenommen): melodische Entwicklungen, harmonische Funktionsverläufe, auch die daraus resultierende Spannung und Entspannung muss Ligeti neu organisieren.
Dafür fallen andere Parameter stärker ins Gewicht: Unterschiede in der Lautstärke zum Beispiel, rhythmische Feinheiten, Struktur durch Wiederholung etc. Sich einzuschränken, hilft Ligeti bei der Konzentration und bei der Neuorientierung. Auch fürs unbefangene Hören ist das ein Vorteil. Wenn nur ein Ton vorkommt, ist man weniger abgelenkt und man kann sich leichter fokussieren.
Dein Ticket
Hör Dir’s an – ich schlage folgende Frage zum Einstieg vor: Ab wann hörst Du in Ligetis Stücken zum ersten Mal etwas, was Du als Melodie bezeichnen würdest? Reicht der eine Ton des ersten Stücks? Oder braucht man mindestens zwei? Und was ist überhaupt eine Melodie?
Ich schlage eine ausweichende Behelfsdefinition vor, die unvollständig, aber für den Moment sehr tragfähig ist: Eine Melodie ist, was sich gut begleiten lässt.
Melodien tauchen demnach unter anderem im vierten und im siebten Stück auf. Wenn Du versuchst, Dir diese Stücke ohne die Begleitung vorzustellen, wird das eventuell gar nicht klappen. Es ist wie mit einer Aufforderung, die damit beginnt, jetzt nicht an dies oder das zu denken. Die Verneinung verstärkt das Bild oder in dem Fall das musikalische Geschehen, das man sich nicht vorstellen will.
Das ist nützlich! Die Behelfsdefinition von oben lässt sich damit auch anders formulieren: Eine Melodie könnte sein, was man sich gar nicht ohne eine mögliche Begleitung vorstellen kann – auch wenn man die Begleitung selber gar nicht komponieren könnte.
Zusammen, aber unabhängig voneinander
Das siebte ist mein Lieblingsstück aus Ligetis Musica ricercata, und das liegt nicht nur an der wunderschönen Melodie, sondern auch an der Begleitung, die rhythmisch so frei und ungebunden wirkt, als würde sie sich ohne die Melodie völlig selbst genügen.
Vielleicht gefällt Dir dieses Stück ja auch. Hier erklärt und spielt es sehr schön Pierre-Laurent Aimard – es bleibt übrigens nicht bei zwei Stimmen:
Und hier gibt es meinen Text über Ordnung und Freiheit bei Strawinski, der sich in seinem Klavierstück Les cinq doigts Ligeti vergleichbar einschränkt, um dadurch Handlungsspielräume zu gewinnen.
Fußnoten
Viele, aber nicht alle Texte Ligetis hat Monika Lichtenfeld herausgegeben:
György Ligeti: Gesammelte Schriften. Hg. v. Monika Lichtenfeld. 2 Bände. Mainz, Berlin, London u. a.: Schott 2007.
Die Zitate aus dem Gespräch mit Roelcke stehen in
»Träumen Sie in Farbe?« György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelcke, Wien: Zsolnay 2003.