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Rituale sprengen

György Ligetis Poème Symphonique für 100 Metronome

Das musst Du im Konzert erstmal aushalten: 100 Metronome, die in unterschiedlichem Tempo gleichzeitig vor Dir ticken, erzeugen gemeinsam einen erheblichen Lärm. Das ist György Ligetis Poème Symphonique. Der Titel klingt gewichtig: ein Poème! Dabei ist das Stück sehr charmant. Zumindest nehme ich das heute so wahr. Bei der Uraufführung im Jahr 1963 gab es einen Skandal.

Poème Symphonique

Das Poème Symphonique für 100 Metronome spielt sich laut frühen Vortragsanweisungen folgendermaßen ab: Die 100 mechanischen Taktzähler sollen von 10 Ausführenden auf der Bühne ›betreut‹ werden. Dazu kommt ein Dirigent.

Jede:r der Ausführenden kümmert sich darum, je 10 Metronome in frei wählbaren Geschwindigkeitsstufen einzustellen und den Aufziehschlüssel ca. 1,5- bis 2-mal umzudrehen. Das sorgt dafür, dass das langsamste aller Metronome am Ende nach ca. 20 Minuten abgelaufen ist.

Dann setzen die Damen und Herren Ausführenden die Metronome in Bewegung. Und es entsteht ein Stück, so Ligeti, in 3 Phasen: Zunächst sind beim Hören praktisch keine einzelnen Metronome zu unterscheiden. Je mehr Metronome ›sich verabschieden‹, desto stärker beginnen sich größere und kleinere rhythmische Cluster herauszuschälen. Am Ende tickt nur noch ein langsames einzelnes Metronom. Dann Stille.

Aufführungen heute

Ich habe dieses Stück, soweit ich mich erinnere, zum ersten Mal in einem Studentenkonzert der Bamberger Symphoniker unter Jonathan Nott gehört. Direkt im Anschluss – in die Stille hinein – gab es die Bearbeitung des Bach-Chorals »Komm, süßer Tod« von Leopold Stokowski.

Ich war Musikwissenschaftsstudent, der Professor ein Spezialist für Neue Musik. Von daher war ich Kummer gewohnt und Ligeti hat mir nichts ausgemacht, auch wenn ich seine Musik damals vor allem auf interessante Weise fremd fand.

Unglaublich gut, schön, gelungen und auch berührend war für mich der Übergang in den Bach-Choral:

Leopold Stokowski dirigiert sein Arrangement von J. S. Bachs Choral »Komm, süßer Tod«.

Das Stück für 100 Metronome habe ich seitdem mehrfach gehört. Und normalerweise war es so, dass die Metronome bereits tickten, wenn das Publikum den Konzertsaal betrat. Wir setzten uns hin – und die Metronome halfen uns quasi beim Runterkommen. Es wurde leise und wir hörten in einem Saal mit Platz für 1400 Leute ein eigentlich nicht unangenehmes Ticken, das entfernt an einen unregelmäßigen Regenschauer erinnerte.

Die Uraufführung in Hilversum

Eine Aufführung dieser Komposition durch Schlagzeuger:innen ist unmöglich. Wohl kein Percussionensemble der Welt wäre in der Lage, das geordnete Chaos dieses schrulligen Stücks so exakt zu reproduzieren, wie das die Metronome leisten. Und vielleicht ist das ein Grund, warum dieses Stück bei seiner Uraufführung in Hilversum im Jahr 1963 zu einem Skandal oder jedenfalls zu Unbehagen und einer Kontroverse führte. So schlimm, dass statt der geplanten Fernsehübertragumg am Ende anscheinend ein Fußballspiel gesendet wurde.

Die Uraufführung kannst Du Dir inzwischen online anschauen unter diesem Link:

https://gaudeamus.nl/en/jubileum/ligetis-poeme-symphonique-the-premiere-in-1963/

Es ist ein völlig anderer Eindruck als der, den ich bei meiner Premiere hatte. Alles wirkt sehr ehrwürdig. Damen im Abendkleid, Herren im Anzug, auf der Bühne Damen im Abendkleid und Herren im Frack. Es gibt Applaus, während die Ausführenden auf die Bühne schreiten. Die Metronome laufen noch nicht. Erst als Ligeti, der als Letzter auftrat, nach längerer Kunstpause elegant den Einsatz gibt, geht es los. Nach der Aufführung gibt Ligeti selbst eine Erklärung zu seinem Stück. Schon dabei wird klar, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, dieses Stück aufzuführen. Außerdem ist Ligeti, wenn er schreibt oder spricht, sehr geistreich und lustig. Die Leute in Hilversum lachen laut…

Das Konzertritual sprengen

Falls Du gerne einmal in ein klassisches Konzert gehen würdest, aber unsicher bist, wie Du Dich dort verhalten sollst, dann sind Stücke wie das von György Ligeti eventuell genau das Richtige für Dich.

Es kann Spaß machen, sich im Publikum umzuschauen oder umzuhören, bevor ein vielleicht eher unbekanntes modernes Stück losgeht, während es läuft und nachdem es vorbei ist. Wann soll ich klatschen? Soll ich überhaupt klatschen? Eigentlich will ich buhen! Oder einfach nur raus…

So oder so ähnlich denken – möglicherweise – manche, während sie in solchen Konzerten sitzen. Und wer will es den Leuten verdenken, falls die Musik gar keinen Spaß macht, völlig unzugänglich wirkt oder nicht gut vermittelt wird. (Am meisten gelangweilt hab ich mich allerdings in zwei Konzerten mit Stücken von Mozart und Beethoven – furchtbar!!! Immerhin hab ich die erste Hälfte mit Beethoven verschlafen. Ich hatte eine Freikarte.)

Was mich wirklich überrascht hat beim Schauen der Uraufführung von Ligetis Poème Symphonique, ist, dass die Menschen im Publikum alle sehr gesittet und auch recht ruhig bleiben. Es gibt ein bisschen Gelächter. Aber freundlich, glaube ich. Viele reden, aber keiner regt sich auf. Vielleicht übersehe ich etwas. Oder es wurde herausgeschnitten. Aber am Ende gibt’s Applaus! (Ganz am Ende buhen eventuell ein paar Protestler.)

György Ligeti in späteren Jahren

Eine genial einfache Idee

Ligeti schafft es hier mit einer genialen und genial einfachen Idee, das Konzertritual kontrolliert zu sprengen, das wir damals wie heute noch durchleben.

Er benutzt den Schrecken aller Musikschüler:innen, den Taktgeber, den, der beim Üben mit mechanischer Unnachgiebigkeit über das Tempo wacht, um ins Konzertritual feine Risse zu schlagen.

Schau Dirs ganz an. Es lohnt sich sehr.

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