Mahlers Siebte aus der Vogelperspektive
Ich arbeite seit über 10 Jahren als Musikredakteur. Dabei bin ich eigentlich Literaturwissenschaftler. Ursprünglich hatte ich mal Cello studieren wollen. Stattdessen habe ich mich für etwas Vernünftiges entschieden: Germanistik, aber nicht auf Lehramt, und im Nebenfach Musikwissenschaft. Alte Liebe rostet nicht.
Schwerpunktmäßig hätte ich also Germanistik studieren sollen. Dass es umgekehrt anfing, lag u. a. daran, dass ich im ersten Semester an einem Seminar zur Musik von Gustav Mahler und Richard Wagner teilgenommen habe, in dem auch wirklich sämtliche Symphonien etc. des einen und Bühnenwerke des anderen hätten Thema sein können, wenn dafür denn genügend Zeit gewesen wäre. Und genügend Zeit hatten wir natürlich nicht.
Von Mahler überfordert
Ich habe damals viel mehr Musik gehört, als ich in dem Moment geordnet hätte überblicken können. Das Seminarprogramm hat mich großzügig überfordert. Ich erinnere mich dunkel an eine Reihe von Wagner-Opern und ihre schwülstigen Texte, die mir damals zum ersten Mal begegneten. Ein Referat habe ich gehalten über Mahlers Symphonie Nr. 2. Viel weiter bin ich damals mit seinen Symphonien nicht gekommen. Wie auch?
Die Symphonien von Gustav Mahler dauern lang. Sie fordern ein groß besetztes Orchester, teils mit eher exotischen Instrumenten, teils mit zusätzlichen Instrumenten irgendwo in der Ferne, teils mit Sängerinnen, Sängern oder Chören.
Mahlers Symphonien sind komplex, bis zur Kompliziertheit detailverliebt und entsprechend reich an interessanten Details. So reich, dass es einem schnell reichen kann, wenn man versucht, sich auf diese Musik einzulassen, ihr Aufmerksamkeit zu widmen – nur um eventuell bald zu merken, dass die eigene Aufmerksamkeitsspanne augenscheinlich zu kurz ist, um sich nicht ein Stück weit in Mahlers Musik zu verlieren und die Orientierung gleich mit.
Sich das Hören einfacher machen
Was in solchen Fällen hilft, ist, die eigene Aufmerksamkeit bewusst zu lenken. Das ist dann nicht so schwierig, wenn man eine Vorstellung hat, wohin man sie lenken könnte: Zum Beispiel kann es weiterführen, zu versuchen, die Melodien aus dem oft dicht geflochtenen Orchestersatz herauszuhören – sofern es denn dort so etwas wie Melodien gibt. Oder probier mal, ob Du es schaffst, eine Zeit lang mitzuverfolgen, von welchen Instrumenten oder Instrumentengruppen die Musik – egal welche – gerade dominiert wird.
Es gibt natürlich sehr viel mehr interessante Aspekte als diese. Welchen Aspekt Du ins Ohr fasst, ist nicht entscheidend. Hauptsache – sofern Dich ein solches Hören interessiert -, Du kannst aus einer Reihe von solchen Aspekten auswählen – und Du kannst Dich für einen entscheiden.
In dem Seminar damals zu Wagner und Mahler konnte ich das nicht. Ich wusste einfach nicht oder habe die Frage nicht gestellt, wie ich mir das Hören einfacher machen könnte. Mir haben die Kategorien gefehlt oder eben die Blickwinkel, aus denen heraus ich mir die Musik hätte erschließen können.
Stattdessen habe ich mich, ohne es im ersten Moment zu merken, ein bisschen übermotiviert mit Musik überfressen – was den Genuss vorübergehend nicht unbedingt gesteigert hat. Auf Dauer motivierender und auch bereichernder ist es, durchdachter zuzuhören.
Bei Mahlers Symphonien kann es zum Beispiel helfen, eine Vogelperspektive einzunehmen und sich Fragen zu stellen wie: Wie stehen die einzelnen Sätze in Beziehung zueinander? Oder: In welchem Verhältnis stehen sie? Wo also bilden sich Schwerpunkte? Wie gestaltet sich die innere Balance einer solchen Symphonie insgesamt?
Das Finale als Ziel
Seit spätestens Ludwig van Beethoven gibt es Symphonien, in denen sich die Musik ganz eindeutig zum Finale hin entwickelt: Das ist zum Beispiel in Beethovens Fünfter der Fall.
Zwar gibt es kurz vor dem sehr schnellen Schlussteil des letzten Satzes eine kleine Atempause, bevor das furiose Finale dieser Fünften endlich richtig zu Ende geht. Aber im Ganzen betrachtet hat diese Symphonie eine klare Richtung: Die Spannung löst sich erst mit dem letzten Satz. (Dass das in Beethovens Zweiter anders funktioniert, habe ich hier beschrieben.)
Auch Gustav Mahlers Symphonie Nr. 2 ist ein Beispiel für diesen Final-Typus: Diese Komposition hat den Beinamen Auferstehungssymphonie. Und von der Auferstehung, auf die alles zuläuft, singt ein großer Chor im letzten Satz der Symphonie, nachdem im Satz zuvor bereits wunderschön die Altsolistin gesungen hat – die vorangehenden Sätze waren rein instrumental. (Ein Vergleich mit der Dramaturgie von Beethovens Neunter drängt sich auf, da singt am Ende auch ein Chor – und wie…)
Das Finale als Ziel?
Über Mahlers Siebte gibt es seit Jahrzehnten eine große Diskussion, die sich auch in Programmheften oder Einführungsvorträgen zu Konzerten heute mitverfolgen lässt (z. B. hier auf S. 5): Das Finale dieser Symphonie ist dieser Diskussion zufolge so heiter und – für Mahlers Verhältnisse – unkompliziert, ist es nicht auch ein bisschen harmlos, zu harmlos sogar und verdächtig plakativ?
Ob und inwieweit das Finale der Siebten (formal) überzeugt, ist eine Frage, über die sich hauptamtliche Musikwissenschaftler:innen auf wirklich interessante und kompetente Weise streiten können. Statt eine solche Diskussion im Detail nachzuzeichnen, will ich hier nur den Rahmen der vorhin gestellten Frage ändern:
Denn um diese Frage überhaupt diskutieren zu können, muss auch die Musikwissenschaft klären, welche Funktion innerhalb der Siebten man denn ihrem Finale zusprechen will.
Ich denke, dass das Finale dort nicht das Ziel der Entwicklung darstellt.
Zur Balance der Siebten
Gustav Mahlers Symphonie Nr. 7 hat fünf Sätze. Das unterscheidet sie von vielen Symphonien des späten 18. und dann 19. Jahrhunderts, in denen vier Sätze die Regel waren.
Fünf Sätze ermöglichen eine andere Symmetrie als vier: In der Mitte einer ungeraden Zahl von Sätzen steht ein Satz, in der Mitte einer geraden stehen zwei oder keiner.
Der mittlere Satz von Gustav Mahlers Siebter ist ein Scherzo mit der Vortragsbezeichnung Schattenhaft. Die beiden diesen Mittelsatz direkt umschließenden Sätze tragen jeweils den Beinamen: Nachtmusik.
Die Symmetrie ist explizit genug, dass man sie ernst nehmen muss. Der Schatten und das Dunkle sind also für diese Symphonie zentral. Wo Schatten ist, ist aber auch Licht.
Was denkst Du, verschieben sich mit dem Finale der Siebten nochmal die Gewichte? Und: Heißt Symmetrie der Sätze auch Gleichgewicht?
Falls Du lieber anders und zügiger einsteigen willst, empfehle ich Dir den vierten Satz der Siebten: Das ist eine Serenade mit teils ungewöhnlichen Soloinstrumenten, schön für laue Sommerabende – los geht’s hier bei Minute 44: