Zum Finale seiner 1. Symphonie
Einen Witz erklärt man immer zu spät. Man kann zwar verständlich machen, warum er hätte lustig sein sollen. Aber es lacht halt keiner mehr.
Wenn ich zu erklären versuche, warum Musik, die ich gehört habe, gut ist oder mich begeistert, ist es ähnlich: Ich muss davon ausgehen, dass die Musik selber besser für sich spricht, als ich das kann, weil das, was ich über Musik schreibe, nicht das Gleiche ist wie das, was Du erlebst, wenn Du sie hörst.
Im Unterschied zu einem gut erklärten Witz aber erklärt sich Dir der Witz der Musik oft erst dann, wenn Dir jemand gezeigt hat, worauf genau es sich zu hören lohnt.
Jede Musik kann zwar auch schon beim ersten Hören und ohne irgendwelche Erklärungen packen. Aber spätestens wenn Du weitererzählen willst, was Dich da gepackt hat, kann es helfen, wenn Du weißt, wie Du die Musik beschreiben könntest, auch wenn das über Deinen Höreindruck eventuell gar nicht so viel sagt.
Programmatisch – Mahler zum Finale seiner 1. Symphonie
Gustav Mahler hat Natalie Bauer-Lechner gegenüber das Finale seiner 1. Symphonie in Worte gefasst:
»Mit einem entsetzlichen Aufschrei beginnt […] der letzte Satz, in dem wir nun unseren Heros völlig preisgeben, mit allem Leid dieser Welt im furchtbarsten Kampfe sehen. ›Immer wieder bekommt er – und das sieghafte Motiv mit ihm – eins auf den Kopf vom Schicksal‹, wenn er sich darüber zu erheben und seiner Herr zu werden scheint, und erst im Tode – da er sich selbst besiegt hat und der wundervolle Anklang an seine Jugend mit dem Thema des ersten Satzes wieder auftaucht – erringt er den Sieg. (Herrlicher Siegeschoral!)«
Mit dem Kampf des Helden mit dem Schicksal kann ich sofort etwas anfangen: Die Musik wird konkret, ich kann mir etwas drunter vorstellen, wie schemenhaft und undeutlich auch immer. Deutlich hörbar sind zum Beispiel die Schläge auf den Kopf, die der Held ›und das sieghafte Motiv mit ihm‹ bekommen, genauso wie der »entsetzliche[] Aufschrei« gleich zu Beginn.
Ernüchtert – eine technische Beschreibung
Ebenfalls treffend beschrieben hat Mahler mit der Aussage oben die zyklische Form seiner Symphonie. »[D]er wundervolle Anklang an … [die] Jugend« des Helden lässt sich musikalisch dann nachvollziehen, wenn man die Symphonie von Anfang an gehört hat und am Ende wiedererkennt, was am Anfang schon mal vorgekommen ist.
Eine Symphonie zyklisch zu runden durch Rückgriffe auf vorher verwendete Themen ist nicht Mahlers Erfindung. Das gab’s auch schon vor ihm. Bemerkenswert an Mahlers Beschreibung seiner Form ist, dass er letztere erläutert, indem er sich auf ein inhaltliches Vehikel verlässt: die Erinnerung des Helden an seine Jugend.
Mahler aber hat häufiger programmatische Erläuterungen zu seinem Schaffen gegeben. Und nicht in jedem Fall fand er diese Erläuterungen auf Dauer brauchbar. Treffend vielleicht schon, aber eben nicht umfassend, und vielleicht sogar irreführend. Deswegen hat er die zur 1. Symphonie später zurückgezogen.
Ein krasses Gegenmodell zu Mahlers oben zitierter Beschreibung wäre eine musikwissenschaftliche Analyse, die von jedem inhaltlichen Potenzial dieser Symphonie abstrahiert, um sich nur darauf zu konzentrieren, wie Mahler am Ende seiner Ersten den Anfang wieder aufnimmt. Ich habe hier eher technisch unter anderem beschrieben, wann im Laufe des Schlusssatzes Anklänge an den Beginn der Symphonie zu hören sind.
Architektur – ein Bild fürs innere Auge
Theodor W. Adorno hat einen umfangreichen Essay über Mahlers Musik geschrieben, in dem er sehr anspruchsvolle musikalische Analysen immer wieder rückkoppelt an historische, (sozial)philosophische und musiksoziologische Überlegungen.
Sprachlich ist dieser Essay sehr ausgefeilt und reich an zitierfähigen Bonmots, in denen aber eben mehr steckt als nur die gute Formulierung.
Besonders leuchtet ein, was er über Mahlers »Erkenntnis« schreibt,
»daß musikalische Zeit, im Gegensatz zur Architektur, keine einfachen Symmetrieverhältnisse gestattet. Das Gleiche ist ihr ungleich, Ungleiches mag Gleichheit stiften; nichts ist indifferent gegen die Sukzession. Was immer geschieht, muß spezifisch dem Rechnung tragen, was zuvor geschah.«
Zwar stellt Adorno hier Architektur und Musik gegenüber. Aber zugleich bietet er, indem er beschreibt, wie die Musik ihre Formen bildet, ex negativo die einfachen Symmetrieverhältnisse der Architektur als Bild fürs innere Auge an, das Du probeweise auf die Musik projizieren kannst.
Um nämlich solche einfachen Symmtrieverhältnisse zu gestalten, müsste Musik darauf Rücksicht nehmen, dass, wie Adorno schreibt, alles in ihr nur im Rahmen einer zeitlichen Abfolge – der »Sukzession« – zu denken ist.
Der Witz!
Das ist erst einmal trivial: Klar, Musik bildet ihre Form in der Zeit aus. Man kann einfache Symmetrien auf einem Bild vielleicht mit einem Blick erkennen. Bei Musik dauerts länger – und besonders lang bei Mahlers Symphonien.
Ob aber diese Symphonien Symmetrieverhältnisse gestalten oder nicht, ist letztlich gar nicht der Punkt. Entscheidend ist, dass Musik, weil sie sich in der Zeit (und beim Hören) entfaltet, von uns verlangt, dass wir während des Hörens ein bisschen mitdenken, Erinnerungen bilden, aber auch Erwartungen, um nach und nach mitzuerleben, was die Musik quasi vor unserem inneren Auge tut, während sie so schnell vergeht, wie sie erklingt!
Klingt schwierig, ist es auch – einerseits. Andererseits aber ist Mahlers Erste packend, auch ohne dass ich ihre Form ganz durchschaue. Das Seltsame ist, dass diese Musik ohne Worte förmlich danach zu schreien scheint, sie inhaltlich zu konkretisieren. (Mahler hat das ja selber getan, siehe oben.) Der Witz dieser Musik ist in meinen Augen der, dass sie die Illusion erzeugt, die nicht vorhandenen Inhalte dieser Musik wären besser zu verstehen als ihre unweigerlich sich darbietende Form.