Zum Scherzo aus der 3. Symphonie von Louise Farrenc
Register in Büchern sind praktisch, aber langweilig. Wirklich langweilig aber sind eintönige Register: In Reclams Konzertführer (Orchestermusik, 15. Auflage, 1994) gibt es, wenn ich richtig sehe, keine Frauen. Den Führer hatte ich mir als Schüler gekauft, weil ich einen Überblick über klassische Orchestermusik bekommen wollte. Eine sehr gute Wahl, finde ich heute noch, auch weil auf 20 Seiten Personen- und Werkregister sehr viel mehr Komponisten auftreten als die, die man vielleicht kennt, wenn man ›sich auskennt‹.
Trotzdem ist es seltsam, auf der Suche nach Frauennamen im Lauf von 20 Seiten Register zuerst bei Victoria, Tomás Luis de hängen zu bleiben. Nicht einmal Klassikerinnen wie Clara Schumann oder Fanny Hensel kommen vor, geschweige denn jemand wie Lili Boulanger oder Sofia Gubaidulina.
Musik von Frauen ist interessanter
Wer sich nicht nur für die Musik von Männern interessiert, findet von Reclam außer dem ebenfalls sehr männerlastigen Band mit dem Titel Komponisten-Porträts seit 2009 das Komponistenlexikon von Melanie Unseld mit von ihr verfassten Artikeln z. B. zu Adriana Hölszky, Olga Neuwirth oder Nadia Boulanger.
Eine leichter greifbare Fundgrube online sind zum Beispiel die Lexikon-Seiten von MUGI (Musik und Gender im Internet). 250 Komponistinnen portraitiert hat Arno Lücker hier und hier.
Es gibt natürlich sehr viel mehr Quellen und auch eine sehr rege Szene zur Musik von Frauen. Vor allem gibt es sehr viel sehr gute Musik von Frauen. Die wird nur viel zu selten gespielt – jedenfalls von den Orchestern, die man in Programmheften immer wieder gern und wahrscheinlich völlig zu Recht als führende Orchester bezeichnet.
In mehr als 10 Jahren Berufstätigkeit als Musikredakteur habe ich letztes Jahr zum ersten (und einzigen) Mal ein Konzert betextet, in dem ausschließlich Musik von Frauen gespielt worden ist. Dabei habe ich in den Jahren davor viele Programmhefte betreut, in denen es Texte gab zu neuer Musik von zeitgenössischen Komponistinnen. Manchmal aber kommt es mir vor, als hieße neue nicht kürzlich geschriebene, sondern neulich zum ersten Mal gehörte Musik.
Merkwürdig und unfair, dass im zeitgenössischen Klassikbetrieb die Musik von Frauen nach wie vor unterbelichtet ist im Vergleich zur erdrückenden Tradition der Männer.
Die dritte Symphonie von Louise Farrenc
Eine der Komponistinnen, die ich vor einigen Jahren erst entdeckt habe, ist Louise Farrenc.
Louise Farrenc, geb. Dumont (Anonym, via Wikimedia Commons)
Ihre dritte Symphonie hat vor kurzem der finnische Dirigent Mikko Franck mit dem Orchestre philharmonique de Radio France im Konzert dirigiert, und auch Franz Welser-Möst hat sie mit dem Cleveland Orchestra aufgeführt. Dass Farrenc inzwischen keine ganz Unbekannte mehr ist, liegt auch daran, dass es von ihren Symphonien mittlerweile mehrere CD-Einspielungen gibt.
Ich lehne mich wahrscheinlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich voraussage, dass die Symphonien von Louise Farrenc in den nächsten Jahren häufiger in großen Konzertsälen zu hören sein werden. Diese Musik ist nichts fürs Archiv. Dafür ist sie viel zu gut.
Scherzo
Hier folgt ein Video mit einer Liveaufnahme des Scherzos aus Farrencs dritter Symphonie, das mir allein schon wegen der Gesten der Dirigentin sehr gut gefällt:
Ein Scherzo ist ein Satz im Dreiertakt. Für diesen Satz gibt Laurence Equilbey hier ein eher langsames Tempo vor. Sie schlägt in eins, das heißt: Sie dirigiert ausdrücklich nur jeden dritten Schlag. Genauer gesagt zeigt sie jeden ersten Schlag einer Gruppe aus je drei Schlägen.
Wenn Du gleich am Anfang auf die tiefen Streicher hörst, kannst Du das sehen: Die Dirigentin gibt nicht zu jeder dieser Noten einen extra Impuls mit dem Taktstock. Noch deutlicher wird das, wenn Du darauf achtest, wie die schnellen Geigennoten mit den Gesten der Dirigentin kontrastieren. Würde sie jeden Schlag mit dem Taktstock nachzeichnen, müsste sie zu jeder zweiten dieser Geigennoten ein Zeichen geben – was völlig übertrieben wäre und den Fluss der Musik nur stören würde.
Zwei gegen drei – ein bisschen Scherzomathematik
Wenn Du genau hinhörst, wirst Du merken, dass die Geigenfiguren die Dreierlogik des Scherzos unterlaufen: Sie spielen eine Figur aus 4 Tönen. Und diese Figur wiederholen sie 3 Mal. 3 mal 4 gibt 12. Diese 12 Noten sind jeweils doppelt so schnell wie einer der 3 Schläge, von denen die Dirigentin nur jeden dritten tatsächlich dirigiert. Wenn ich 12 durch 2 teile, komme ich auf die Anzahl der Schläge – 6 -, in denen die Geigen ihre 12 Noten unterbringen.
6 Schläge, das sind 2 Takte à 3 Schläge. (Es könnte auch ein Takt à 6 Schlägen sein. Ich kann das ohne Partitur nicht prüfen.)
Der Witz der Geigen, von dem in ähnlicher Form so viele Scherzi zehren, ist der, dass die Geigen der Dreierlogik eine Zweierlogik entgegensetzen, ohne damit den Takt zu sprengen: Die erste Viererfigur läuft auf den ersten beiden Schlägen von Takt 1. Die zweite Viererfigur passiert auf Schlag 3 des ersten und auf Schlag 1 des zweiten Taktes. Und – es passt perfekt – mit der letzten Viererfigur füllt Farrenc die restlichen Schläge des zweiten Taktes.
Das gesamte Scherzo lebt von solchen verschobenen Akzenten. Je öfter Du es Dir anhörst, desto mehr werden Dir solche plötzlich dazwischentönenden Unregelmäßigkeiten auffallen, vor allem, wenn Du versuchst, immer den jeweils ersten Schlag des Taktes auf der Tischplatte mitzuklopfen.
Schöne Gesten
Laurence Equilbay dirigiert in diesem Video das von ihr gegründete Insula Orchestra, das auf historischen Instrumenten spielt. Die Dirigentin wirkt sehr entspannt und hält dabei alle nötigen Fäden in der Hand. Was mir an ihren Gesten gut gefällt, ist, dass sie das Orchester immer einmal wieder einfach machen lässt.
Das beginnt schon damit, dass sie eben in eins schlägt, und nicht in drei. Aber es geht weiter. Schau mal kurz nach Minute 0:40, wie sie den Bläsereinsatz vorbereitet, indem sie sich den Taktstock aus der Hand nimmt, um der Riege der Bläser:innen zum Spielen quasi erst einmal schnell noch den Vorhang aufzumachen.
Bei Minute 1:12 schirmt sie den Klang des Orchesters mit dem ganzen Körper ab und macht ihn leise.
So ab Minute 1:20 werden die Gesten der Dirigentin besonders sparsam.
Laurence Equilbay hat außer bei Jorma Panula und Nikolaus Harnoncourt auch bei Eric Ericson studiert, dem schwedischen Chorleiter, und sie arbeitet selbst als Chorleiterin. Vielleicht klingt das Trio ab 2:40 deswegen so frei, als ob Sänger:innen dabei atmen.