Franui seit 1993 – I
Franui ist eine Almwiese hoch über dem Dorf Innervillgraten in Osttirol. Wie diese Wiese heißt auch die phantastische Musicbanda, die Mitte August 2023 auf der Unterstaller Alm ihr 30-jähriges Bestehen feierte.
Schon rein logistisch war das dreitägige Festival eine Meisterleistung: Open-Air-Bühne mit Soundtechnik, Park- bzw. Schlechtwetterzelt, ein bestens markierter Wanderweg mit farblich prägnant gestalteten Wegmarken, Verpflegung für Tausende von Besucher:innen, Regenumhänge aus Maisstärke, auf denen man gut sitzen konnte, wenn man – wie ich – verpeilt hatte, ein eigenes Sitzkissen oder eine Picknickdecke mitzunehmen…
Programm
Das und mehr – ein Konzertflügel! – war von den Veranstalter:innen auf die 1.673 m hoch gelegene Alm transportiert worden, wo sich eine treue Fangemeinde unter grünen Hügeln und sanften Berggipfeln unter sengender Sonne niederließ.
Zu hören gab’s nur wirklich Feines. Den zweiten Tag habe ich dort oben miterlebt: Im ersten Konzertblock spielte das Fauré Quartett u. a. Mussorgskys Bilder einer Ausstellung in einer Version für Klavierquartett. Im dritten Block traten Franui selbst auf gemeinsam mit den Strottern aus Wien.
Und den Block dazwischen gestalteten die Cellistin Harriet Krijgh, das Wienerlied-Duo Die Strottern und der sensationelle Schweizer Stimmkünstler Christian Zehnder.
Kontexte
Krijgh spielte die dritte Suite für Cello solo von Johann Sebastian Bach, Die Strottern präsentierten Lieder, wie ich sie mir auch gern in Wiener Kneipen anhören würde, und Christian Zehnder stellte mit seiner Stimme Dinge an, die ich so überhaupt noch nie gehört hatte.
Er hat früher einmal Jazzgitarre studiert. Heute jodelt er virtuos, singt opernhaft, weil er auch Gesang studiert hat. Aber das sind nur einzelne Facetten, aus denen er jedesmal wieder ein faszinierendes stimmliches Gesamtkunstwerk zusammensetzt, das abstrakt wirkt und in verschiedenste Richtungen anschlussfähig ist, vgl. z. B. sein Triohatala bei Deichkind.
Im folgenden Video ab Minute 0:15 singt Zehnder nicht nur einen Ton, sondern mehrere gleichzeitig:
Dass zwischen den Sätzen der Bach-Suite mal Lieder aus Wien und mal Beiträge Zehnders zu hören waren, gab allen Stücken im Kontrast zueinander eine akustische Tiefenschärfe, die ich ihnen in ihren mir vertrauteren Kontexten (Konzertsaal, Klassik, keine Wanderklamotten) so nie angehört hätte.
Resonanzen
Johann Sebastian Bachs sechs Suiten für Violoncello solo gelten geradezu als Bibel der Celloliteratur. Oft werden sie, Bach war ein religiöser Mensch, in Kirchen gespielt. Von dem russischen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch zum Beispiel gibt es eine wuchtige Aufnahme, die in der Kathedrale von Vezelay in Frankreich entstanden ist.
Dass in den Melodien, die Bach dem Cello auf den Leib geschrieben hat, mehrere Stimmen versteckt sind, lässt sich in einer großen Kathedrale gut hörbar machen, indem man den langen Nachhall nutzt, der die Akustik einer solchen Kirche prägt.
Du kannst aber auch direkt im folgenden Video einen Eindruck davon bekommen, wie Bach in scheinbar linear gebauten Melodien polyphon, also mehrstimmig arbeitet:
Ab Minute 00:25 geht es los mit der Bourrée Nr. 1, einem aus Frankreich stammenden, fröhlichen Tanz in zügig geradem Takt. Wenn Du genau hinhörst und -schaust, wirst Du merken, dass Bach seine Melodien systematisch auf mehrere Saiten des Cellos verteilt. Es wirkt anfangs wie eine Art Frage-Antwort-Spiel. Später, ab Minute 00:33 werden es ganz deutlich zwei in unterschiedliche Richtungen orientierte Stimmen.
Unter freiem Himmel
Eine Suite ist eine Abfolge von mehreren Tanzsätzen, im Fall der Cellosuiten eröffnet von einem Prélude (von Harriet Krijgh habe ich keine Aufnahme der dritten Suite gefunden). Und so wie Zehnders kunstvolle Vokalpolyphonie erstaunlich gut mit Bachs Mehrstimmigkeit korrespondiert, kontrastieren die Beiträge der Strottern aufs Allerschönste mit der Musik des barocken Bibelschreibers:
Nächste Woche mehr.