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Sich verzehren

Das Violinkonzert »Offertorium« von Sofia Gubaidulina

Dunkel erinnern sich Gidon Kremer und Sofia Gubaidulina an eine gemeinsame Taxifahrt Ende der 1970er Jahre nach einem Konzert, möglicherweise in Grigori Frids Musikklub in Moskau. Im Taxi fragte der Geiger die Komponistin, ob sie sich vorstellen könnte, ein Violinkonzert zu schreiben. Er kannte ihre Sonate für Kontrabass, fand sie klanglich originell und er spielte schon damals gerne neue Musik.

Klang und Opfer

Pech für Sofia Gubaidulina war nur: Gidon Kremer galt inzwischen als einer der ›besten Geiger der Welt‹. Karajan hatte ihn so bezeichnet – und dann musste es ja stimmen.

Aber tatsächlich hatte Gidon Kremer seit Mitte der 1970er Jahre in West-Berlin, bei den Salzburger Festspielen und in den USA gastiert. Nichts davon war für einen Sowjetbürger selbstverständlich.

Jetzt, 1978, erlaubte man dem in Riga geborenen Musiker sogar, zwei Jahre lang westlich des Eisernen Vorhangs zu spielen. Er gab in dieser Zeit mehr als 200 Konzerte in 25 Ländern und war damit einfach zu beschäftigt, als dass er sich intensiver um die gewünschte Komposition von Sofia Gubaidulina hätte bemühen können.

Ihr selbst aber blieb Kremers informeller Kompositionsauftrag umso stärker im Gedächtnis. Sie bewunderte den Geiger und sein Spiel inspirierte sie. Besonders beeindruckt war Sofia Gubaidulina, wie sie sagt, von Kremers Tongebung, die sie mit geradezu ins Mystische reichenden Metaphern beschreibt:

»In dieser Vereinigung der Fingerspitze mit der klingenden Saite liegt die völlige Selbstaufgabe an den Ton. Und ich begann zu begreifen, dass Kremers Thema das Opferthema ist, die Opferung des Musikers in seiner Selbstaufgabe an den Ton.«

Sofia Gubaidulina über Gidon Kremers Art, auf der Geige zu spielen

Das Violinkonzert, das Gubaidulina für Kremer schrieb und ihm widmete, nannte sie »Offertorium« – eine Anspielung auf die Gabenbereitung in der heiligen Messe. Gidon Kremer wurde zum Solisten bei der Uraufführung 1981 in Wien und er hat das Konzert früh auf CD eingespielt.

»Offertorium« bildet einen der ersten großen Erfolge der Komponistin außerhalb der damaligen Sowjetunion. Heute gilt es als ein moderner Klassiker des Repertoires für Violine und Orchester.

Geboren in die Sowjetunion

In seiner von der Komponistin autorisierten Biografie Sofia Gubaidulinas hat Michael Kurtz darauf hingewiesen, dass sie seit ihren jungen Jahren »gleichsam vier kulturelle Wurzeln in sich vereinigt.

Ihre ersten Musiklehrer waren vorwiegend Juden, die zur höchsten Schicht der Intelligenzia jener Zeit gehörten. Die insprierenden musikalischen und literarischen Einflüsse jener frühen Jahre kamen aus dem Bereich der deutschen Kultur. Durch ihre Mutter und die Zeitumstände wuchs sie in einem russisch sprechenden Elternhaus und einem russisch geprägten Kulturmilieu auf. Doch das tatarische Element lebte immer in ihrer Umgebung – nicht zuletzt durch ihre väterlichen Vorfahren, auf die sie mit Hochachtung und nicht ohne Stolz blickt.«

Michael Kurtz: Sofia Gubaidulina. Eine Biografie, S. 23.

Ihre Wurzeln waren für Sofia Gubaidulina kein einfaches Erbe: Hineingeboren wurde sie nämlich 1931 auch in die kaum ein Jahrzehnt vor ihrer Geburt gegründete Sowjetunion, die 5 Jahre nach der Oktoberrevolution 1917 unter dem Namen Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) anstelle u. a. des zaristischen Russlands auf der politischen Landkarte erschienen war.

Sofia Gubaidulinas Mutter war Russin. Der Vater stammte aus Tatarstan und war selbst wiederum Sohn eines weltgewandten Imams in der tatarischen Provinz, der außer Russisch und Tatarisch auch Arabisch, Türkisch und Usbekisch sprechen konnte.

Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis Sofia Gubaidulina, die von Kindheit an einen weiten Horizont hatte, mit der inzwischen herrschenden Kulturpolitik in Konflikt kam.

Seit 1932 in Kasan lebend, besuchte sie von 1937 an die dortige Kindermusikschule. Ab 1946 lernte sie am Musikgymnasium. Dass 1948 kein gutes Jahr für in der Sowjetunion lebende Komponist:innen wird, ist für Sofia Gubaidulina noch wenig zu spüren.

Ihr späterer Förderer Dmitri Schostakowitsch und viele andere aber leiden erheblich darunter, dass die sowjetische Kulturpolitik in jenem Jahr von den auf den Komponistenkongressen versammelten Musikern verlangte, ideologisch brauchbare Werke vorzulegen – und nicht irgendwelches individualistisches Zeug, in dem die herrschende Partei so gar keinen Nutzen sah.

Ihren »falschen Weg« weitergehen

Dabei ging es nicht um ästhetische Auseinandersetzungen im luftleeren Raum eines der Politik entrückten Feuilletons. Ganz im Gegenteil: Wer nicht spurte, riskierte es, von der autoritären Führung unter Stalin geächtet zu werden. Musik hatte der Partei zu dienen. Künstlerische Phantasie störte da nur.

»Chaos statt Musik« hatte man Schostakowitsch schon im Jahr 1936 vorgeworfen. Mutmaßlich sogar Stalin selbst hatte sich so über Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk geäußert. Dmitri Schostakowitsch schlief daraufhin monatelang angekleidet, am Bett ein kleiner Koffer, weil der Komponist erwartete, mitten in der Nacht von der Polizei geholt zu werden. Das war im Jahr 1948 zwar lange her. Aber es ist anzunehmen, dass Schostakowitsch sich nur zu gut daran erinnerte.

Sofia Gubaidulina, die 1936 noch ein paar Monate zu jung für die Kindermusikschule war, studierte ab dem Jahr 1949 am Konservatorium von Kasan Klavier und ab 1952 zusätzlich Komposition. Von 1954 bis 1959 studierte sie Komposition am Konservatorium in Moskau u. a. bei Nikolai Peiko, einem Assistenten von Schostakowitsch.

Peiko vermittelte ihr schließlich einen persönlichen Kontakt mit ihrem großen Vorbild. Ihre Begegnung mit Schostakowitsch war, so erinnert sich Sofia Gubaidulina, für sie existenziell wichtig:

»Was mich […] insbesondere traf, waren seine Worte, als ich ging. ›Seien Sie Sie-selbst, haben Sie keine Angst, Sie-selbst zu sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf ihrem eigenen falschen Weg weitergehen.‹ Ein Satz zur richtigen Zeit am richtigen Ort kann für einen jungen Menschen lebenswichtig sein, und ich bin Schostakowitsch für diese Worte unendlich dankbar. Ich brauchte sie gerade damals und fühlte mich dermaßen gestärkt, dass ich nichts mehr fürchtete. Jeder Fehlschlag, jede Kritik berührte mich nicht mehr und lief an mir ab, wie das Wasser am Rücken einer Ente. Ich war nun wirklich in der Lage, meinen eigenen Weg zu gehen.«

Sofia Gubaidulina

Auf ihrem eigenen, ›falschen‹ Weg folgte Sofia Gubaidulina genauso wenig wie Schostakowitsch den engen Bahnen des sozialistischen Realismus, wie ihn der Stalin-Vertraute Andrei Alexandrowitsch Schdanow 1948 noch einmal einforderte. Ein solcher Realismus, der letztlich nur die damalige Ideologie des Sozialismus hätte propagandistisch weiter verbreiten sollen, war ihr suspekt.

Abweichlerin

Er passte davon abgesehen so gar nicht zu ihren vielseitigen Interessen, ihrer kreativen Kraft und ihren künstlerischen Ambitionen. Damit dass sie 1967 den Dissidenten Nikolai Bokow heiratete, tat sich Gubaidulina – politisch gesehen – ebenfalls keinen Gefallen. 1970 entschied sie, sich christlich-orthodox taufen zu lassen. Ab 1975 begann sie, mit zwei Freunden auf traditionellen Instrumenten zu improvisieren und mit deren Klangfarben zu experimentieren.

Es war nach mindestens unbequemen Jahren dann im November 1979, dass sie und sechs andere Komponisten beim Allunionskongress des sowjetischen Komponistenverbands in Moskau von Generalsekretär Tichon Chrennikow hochoffiziell als Abweichler gebrandmarkt wurden.

Gidon Kremer übrigens, der 1980 wieder in die UdSSR hätte zurückkehren sollen, entschied sich für die Emigration und ließ sich in Deutschland nieder.

Portraitfoto von Sofia Gubaidulina, Brustbild
Sofia Gubaidulina im Juli 1981, Fotografie von Dmitri N. Smirnov, CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/, via Wikimedia Commons

Am 30. Mai 1980 spielte er die Uraufführung von Gubaidulinas »Offertorium« in Wien. Die Komponistin selbst reiste erst 1984 erstmals in den Westen. 1986, da war bereits Gorbatschow an der Macht, durfte sie endlich uneingeschränkt reisen.

Die Tradition zitieren

Ihr Violinkonzert »Offertorium« ist ein Stück, das das Thema des Opfers auf mehreren ineinander verschränkten Ebenen durchspielt. Zu hören ist das gleich am Anfang – vor dem Einsatz der Sologeige:

Sofia Gubaidulinas »Offertorium« in einer Aufnahme mit Gidon Kremer, dem Boston Symphony Orchestra und Charles Dutoit

Die gar nicht so leicht nachzusingende Melodie stammt aus Johann Sebastian Bachs »Musikalischem Opfer«. Das ist eine Sammlung von Kanons und Fugen, die Bach über ein Thema geschrieben hat, das sich ursprünglich wohl Friedrich II. von Preußen ausgedacht hatte. Zunächst hat Bach damals live vor dem König improvisiert. Später hat er zu Papier gebracht, was ihm zu Friedrichs Thema eingefallen ist, und die Sammlung dem König als »Opfer« dargebracht.

Hier das Thema, wie Bach es am Anfang seines »Musikalischen Opfers« verarbeitet:

Das Thema des Opfers übernimmt Sofia Gubaidulina also aus der westlichen Musikgeschichte. Und sie zitiert diese Musikgeschichte gleich doppelt. Denn sie lässt die Melodie, anders als Bach, nicht von einem Instrument spielen.

Stattdessen hören wir am Anfang von »Offertorium« eine Reihe von Instrumenten, die nacheinander nur einzelne Töne des Themas hervorbringen. Melodisch zusammen setzt es sich am Ende dadurch zwar vollständig und unverändert. Innerhalb der Melodie aber geben sich die unterschiedlich klingenden Instrumentalfarben nacheinander die Klinke in die Hand.

Anton Webern hatte das bereits so gemacht:

Antonello Manacorda dirigiert das hr-Sinfonieorchester in Weberns Bearbeitung eines Teils aus Bachs »Musikalischem Opfer«.

Der Effekt beim Hören ist der, dass die Klangfarben inmitten des Themas plötzlich ein Eigenleben bekommen, das von der Melodie dieses Themas ablenkt, je nachdem, als wie gewichtig Du diese Farben im Verhältnis zur Melodie wahrnimmst.

Sich verzehren

In Sofia Gubaidulinas »Offertorium« insgesamt erhält die Klangfarbe geradezu das Gewicht eines symbolischen Feuers, das das musikalische Thema nach und nach völlig aufzehrt. Es ist nicht überall gleich gut zu hören, aber Gubaidulina verfährt mit dem von Bach übernommenen Thema so, dass sie es immer wieder spielen lässt, dabei aber am Anfang und Ende der Melodie jeweils einen Ton weglässt, bis von der Melodie schließlich nur noch ein Ton übrigbleibt. Das Thema opfert sich quasi selbst!

Gut zu hören ist die Zersetzung des Themas oben im Video zum Beispiel ab Minute 2:50 und dann ab Minute 5:11.

Dazwischen und immer mehr lebt dieses Violinkonzert dann von einer fast manischen Konzentration auf den Klang von Orchester und Solovioline: Manchmal schneidend intensiv, manchmal ätherisch durchsichtig. Vielleicht leuchtet Dir beim Hören die Assoziation von Feuer ein, das zu heiß ist, um hineinzugreifen. Das ist nicht immer schön, aber wenn es plötzlich schön wird, erwischt es uns warm.

Nach dem Abschnitt, in dem sich das Thema verzehrt, folgt eine lange Kadenz der allein spielenden Geige, in der Du Gidon Kremers Klangkunst sehr gut hören kannst.

Und gegen Ende, oben im Video ab Minute 27:04, folgt ein ausgedehnter Choral, der wahrscheinlich umso stärker ist in seiner sanft nachhaltig befreienden Wirkung, je intensiver man vorher von der Musik gefangen war.

Sich in der Tradition wiederfinden

Das Offertorium in der heiligen Messe ist der Begleitgesang zur Gabenbereitung, also zu dem Teil der Messe, in dem an das letzte Abendmahl von Jesus Christus erinnert wird, bevor er am Kreuz gestorben ist.

Indem Sofia Gubaidulina ihrem Violinkonzert diesen Titel gegeben hat, macht die tiefgläubige Komponistin deutlich, dass sich letztlich auch ihr »Offertorium« selbst als Opfergabe verstehen lässt, in der sich die Komponistin, wie der Geiger an den Ton, an ihre Musik ›hingegeben‹ hat.

Was mich an Sofia Gubaidulinas Violinkonzert umso mehr fasziniert, je öfter ich mich damit beschäftige, ist die Kraft, die diese Musik daraus schöpft, dass sie sich in die Tradition versenkt und sich dabei selbst zu verzehren scheint.

Dass am Ende des Konzerts das Bachsche Thema rückwärts gespielt erneut auftaucht, ist kaum zu hören und erschließt sich allenfalls nach und nach.

Was am Ende bleibt, ist eine von der disziplinierten Form dieser Komposition mit evozierte, aber dadurch allein nicht zu erklärende Wirkung: eine unglaubliche Power, die nichts von ihrer Intensität verliert, je öfter ich mich auf dieses Stück einlasse.

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