Der Schlusssatz aus der Symphonie Nr. 4 von Johannes Brahms
Der letzte Satz der vierten Symphonie von Johannes Brahms ist in Form einer Passacaglia komponiert. Letztere ist eine Variations- oder auch einfach Reihungsform im Dreiertakt aus dem musikalischen Barock. Ein typisches Kennzeichen der Passacaglia ist die immer wieder wiederholte Basslinie, die häufig ganz gleich bleibt, während über ihr viel Raum ist für Variationen.
Der Schlusssatz der vierten Symphonie von Brahms beginnt mit einem achttaktigen Thema, dem man ganz einfach folgen kann – allerdings nicht wegen der Basslinie: Es sind acht Bläserakkorde, also blockartige, gleichzeitig erklingende Töne, die jeweils drei Schläge ausgehalten werden.
Dass sie jeweils drei Schläge dauern, merkt man nicht sofort. Man hört ja die einzelnen Schläge nicht, sondern nur die Dauer der Akkorde. Die aber werden zu Beginn eben nicht ›akustisch vermessen‹, innerhalb der Akkorde ist kein Puls erkennbar.
Das ändert sich, sobald nach diesen acht Tönen das eingangs vorgestellte Thema variiert wird: Prägnant unterstützt von der Pauke sind jeweils die ersten beiden Viertel des Dreivierteltaktes gut zu hören, unten in der Aufnahme ab Minute 0:13. Auffällig ist, dass die zweite Viertel betont wirkt, lauter als die erste. Oder höre nur ich das so?
Es ist ganz typisch für Brahms, dass er mit den Taktschwerpunkten spielt: Normalerweise ist die erste Viertel eines Dreivierteltaktes die wichtigste oder jedenfalls die betonte Note. Wie soll man zum Beispiel einen Walzer tanzen können, wenn nicht klar ist, wann es los geht? Los geht es auf der Eins. Nicht aber halt immer bei Johannes Brahms.
Schon in der zweiten Variation des Themas, ab Minute 0:26, lässt Brahms die Schwerpunkte verschwimmen: Klingt der erste Ton dieser schönen Melodie auf dem ersten Schlag des Taktes? Oder auf einem anderen?
Mit Partitur schauen oder Verstehen im Hören
Ich habe mich heute Nachmittag hingesetzt, den Satz mit Partitur gehört und mitnotiert, wann nach dem Thema jeweils wieder eine neue Variation beginnt. Ich habe also Takte gezählt.
Wenn man das so macht, ist alles ganz einfach. In allerschönster Regelmäßigkeit verarbeitet Brahms sein zu Beginn so simpel präsentiertes Thema in immer wieder neuen Formen, die alle genau acht Takte dauern. Insgesamt gibt es 30 Variationen. Erst mit der Coda kurz vor Schluss des Satzes hält sich Brahms nicht mehr an das Gesetz der acht Takte, dem er sich vorher so streng unterworfen hat.
Selbst aber, wenn ich mit Partitur höre, macht es einen Unterschied, ob ich optisch die Takte zähle – oder ob ich versuche, die je acht Takte auch wirklich zu hören, zum Beispiel indem ich innerlich mitzähle oder mit dem Kugelschreiber auf dem Schreibtisch mitklopfe.
Selbst mit Partitur schaffe ich es nicht bei jeder Variation, rein durch das Hören genau zu verstehen, wie Brahms in dieser Passacaglia seine Variationen gestaltet.
Es kann aber süchtig machen, es notfalls mehrfach trotzdem zu versuchen – auch und gerade ohne Partitur -, den Schlusssatz dieser Vierten nur durchs Hören innerlich mitzuvollziehen.
5 Aspekte im Finale der Vierten
Auf diese 5 Aspekte kannst Du Dich dabei zum Beispiel konzentrieren:
- Wann genau beginnt jeweils eine neue achttaktige Phrase? (Klingt nach einer einfachen Frage. Ist es aber nicht.)
- Wo liegen innerhalb der je acht Takte die Taktschwerpunkte? (Das ist auch nicht immer gleich einfach herauszubekommen. Und genau das macht beim Hören richtig Spaß, je öfter man es nicht versteht!)
- Schaffst Du es, beim Hören aus der Vogelperspektive größere Abschnitte zu unterscheiden? (Das klingt evtl. schwieriger als es ist: Ab Minute 2:58 bspw. wechselt Brahms plötzlich von einem Dreiviertel- in einen Dreihalbetakt, er halbiert also mit einem Mal das Tempo. Zumindest dass sich hier auch die Stimmung ändert, ist, finde ich, gut zu hören.)
- Wie lässt Brahms in den einzelnen Variationen die Instrumente miteinander interagieren?
- Gibt es Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Variationen? (Bspw. zwischen den ersten und den letzten?)
Viel Spaß beim Hören!