Ludwig van Beethovens 2. Klavierkonzert B-Dur op. 19
Beethovens 2. Klavierkonzert ist gar nicht sein zweites. Es gilt als weniger wegweisend als die anderen. Unter den 5 Klavierkonzerten, die wir heute von Beethoven kennen, ist es das kürzeste. Im Orchester sitzen – anders als sonst in Beethovens Instrumentalkonzerten – weder Klarinetten noch Pauken oder Trompeten.
Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 19 wirkt weniger gewichtig als die anderen, weniger prachtvoll, weniger majestätisch, weniger erhaben, weniger wie ein waschechter Beethoven eben. Und trotzdem würde es in meiner täglichen Top-5-Liste von Beethovens Klavierkonzerten häufig auf Platz 1 landen. Es spricht mich einfach unmittelbar an.
Ein Klavierkonzert in verschiedenen Fassungen
Beethoven hat an diesem Konzert schon spätestens im Jahr 1790 gearbeitet. Da hat Mozart noch gelebt. Und Beethoven wohnte noch in Bonn. Von seiner Laufbahn in Wien konnte er damals nur träumen. Seine spätere Taubheit machte sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht bemerkbar.
Ludwig van Beethoven war 1790 gerade 20 Jahre alt. Ab Anfang der 1780er Jahre hatte er Kompositionsunterricht bei Christian Gottlob Neefe erhalten. Mitte der 80er Jahre war er während eines Aufenthalts in Wien möglicherweise Mozart begegnet.
Erste von Beethovens Werken erschienen in jenen Jahren im Druck. Sie werden heute unter den WoO nummeriert: den Werken ohne Opuszahl, zum Beispiel das WoO 63 (die Nummern sind nicht chronologisch), das sind 9 Variationen über einen Marsch von Christoph Dressler, die bereits 1782 gedruckt wurden. Da war Beethoven 11 Jahre alt.
Das WoO 6, ein Rondo für Klavier und Orchester, ist zumindest teilweise ebenfalls bereits in Beethovens Bonner Zeit entstanden. Es ist ein dann doch nicht verwendetes Finale für ein Klavierkonzert, das heute als Beethovens zweites bekannt ist.
Am Klavierkonzert B-Dur hat Ludwig van Beethoven spätestens ab 1790 und dann 1793, 1794/95 und 1798 gearbeitet. Spätestens im Jahr 1798 hat er dieses Konzert uraufgeführt, wahrscheinlich schon früher. In der Zwischenzeit hatte er sein Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15 bereits fertiggestellt. Am 3. in c-Moll skizzierte er schon.
Irgendwas kommt eben immer dazwischen.
Ins Konzert einsteigen bei Mozart und Beethoven
Der Grund, warum mir das B-Dur-Konzert besonders gut gefällt, liegt darin, dass ich diesem Stück seinen Entstehungsprozess ein Stück weit anzuhören glaube: das Suchen, das Spielen, das Experimentieren – und die pure Lust daran.
Als Beethoven an diesem Werk zu komponieren begonnen hat, hatte Mozart die allermeisten seiner mehr als zwei Dutzend Klavierkonzerte bereits geschrieben. Und Mozart hat auf diesem Gebiet einfach Maßstäbe gesetzt. Oft steht zu lesen, Beethoven habe sich in seinem 2. Klavierkonzert am Vorbild Mozarts orientiert.
Hören kannst Du das beispielsweise an Mozarts Klavierkonzert Nr. 9 KV 271 mit dem Beinamen »Jenamy« (früher und bis heute oft fälschlich, aber berühmt »Jeunehomme«).
Dieses Konzert ist eins von Mozarts wichtigsten, und zwar deswegen, weil Mozart darin dem Klavier, das er ja selber spielte!, eine Rolle zugewiesen hat, die so eigenständig nie zuvor gewesen ist.
Fast vorwitzig springt das Klavier gleich am Anfang ins Geschehen. Nur eine kurze Orchesterfanfare geht dem voraus – es spielen die je zwei Oboen und Hörner, Streicher und im Klavier die linke Hand. Direkt im Anschluss antwortet das Klavier hellwach und mit beiden Händen:
Mozarts erstes Thema oben ist gar nicht so weit entfernt vom ersten Thema aus Beethovens 2. Klavierkonzert: Beide Themen beginnen mit einem kräftigen Tuttiklang, der vom Orchester ausgehalten wird (zwei Zählzeiten). Danach folgt jeweils ein Dreiklang in der Grundtonart. Bei Mozart steigt er in Achteln nach oben. Bei Beethoven fällt er in punktierten Achteln nach unten. So oder so ist damit die Grundtonart fest etabliert.
Beethoven hier konventioneller als Mozart
Fast aber könnte man sagen, dass Beethoven in diesem Stück hinter den von Mozart erreichten Stand zurückfällt. Bei Mozart nämlich antwortet – anders als hier bei Beethoven – das Klavier direkt auf den Orchesteranfang. Und das ist – auch wenn Ähnliches vor Mozart schon vorkam – für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich.
Das Übliche war, dass das Klavier im Klavierkonzert erst einsetzte, sobald das Orchester das thematische Material mehr oder weniger ausführlich selber vorgestellt hatte.
Beethoven wird sein 4. Klavierkonzert mit einem berühmten Klaviersolo beginnen lassen. Und auch in seinem 5. setzt das Klavier sehr früh ein. Brahms im 2. Klavierkonzert wird das Klavier Jahrzehnte später ebenfalls direkt am Anfang einbinden.
Hier im 2. von Beethoven stellt das Orchester das Thema vor. Nach dem bereits erwähnten Dreiklangsmotiv antwortet das Orchester. Auch bei Beethoven wirkt das interaktiv und kontrastierend. Aber das Klavier ist eben noch nicht mit von der Partie. Im Grunde hätte er es machen können wie Mozart.
Unkonventioneller als bei Beethoven arbeitet Mozart im »Jenamy«-Konzert auch in der Gestaltung der – sich überlappenden – Phrasen.
Mozart gliedert sein erstes Thema in Gruppen von jeweils vier Takten – die halbe Note und die daran anschließenden vier Achtel bilden den ersten Takt. Allerdings lässt er die zweite Vier-Takt-Gruppe bereits beginnen, während der vierte Takt der ersten Gruppe noch läuft: Takt vier bildet also bereits Takt eins der zweiten Themenhälfte.
In Beethovens Konzert dagegen ist das erste Thema ganz klar in acht Takte gegliedert. Und dabei kann man im Grunde sehr gut mitzählen.
Den Solopart improvisieren
Wenn man beim Hören mitzählt, dann stellt man fest, dass Beethoven in den Ecksätzen dieses Konzerts häufig mit solchen regelmäßigen Gliederungen arbeitet. Auch hier gibt es Überlappungen. Aber wenn ich mir dieses Stück anhöre, dann habe ich sehr deutlich den Eindruck, dass diese immer wieder klar zu unterscheidenden Abschnitte kein Zufall sind.
Tatsächlich hat Beethoven seine frühen Klavierkonzerte – wie z. B. auch Mozart – für sich selbst geschrieben. Und er hat sie im Konzert improvisiert, zumindest in Teilen. Er hat sie also aus dem Stegreif so gespielt, wie es ihm in dieser Situation gerade in den Sinn gekommen ist. Ich denke, dass man Beethovens 2. Klavierkonzert in seiner häufig sehr regelmäßigen Gliederung besonders deutlich anhört, dass diese Regelmäßigkeit auch die Funktion hatte, dem Solisten das Improvisieren seines Parts zu erleichtern.
Ein Beispiel dafür gibt es im Video oben ab Minute 6:39 bis nach Minute 8:00, kurz danach folgt neuerlich das Hauptthema. Bei dieser ganzen Passage kann ich mir besonders deutlich vorstellen, wie Beethoven, je nach Laune, auf dem Klavier phantasiert hat, was ihm eben gerade eingefallen ist.
Wir hören es ja: Es ist ein Hin-und-her zwischen Solistin und Orchester. Und das Klavier zaubert immer wieder neue Ideen aus dem Hut. Warum sollte Beethoven das damals nicht aus dem Moment heraus auch so gekonnt haben? Zumal er ja dieses Konzert in einem langwierigen Prozess selber komponiert hat. Die Grenzen zwischen Improvisieren und dem Reproduzieren von Themen, Motiven, Mustern etc. sind ja evtl. fließend.
Heute im klassischen Konzert sind echte Improvisationen selten. Selbst in den Kadenzen – dort also, wo Soloinstrumente im Instrumentalkonzert allein spielen – spielen die Solist:innen normalerweise nach Noten oder eben auswendig. Improvisiert wird auch heute noch im Jazz. In der Klassik ist diese Tradition verloren gegangen und wird nur in Ausnahmefällen gepflegt.
Improvisation und historische Aufführungspraxis
Ganz stimmt das nicht: Musiker:innen, die sich mit historischer Aufführungspraxis und speziell z. B. mit Barockmusik befassen, kommen kaum drum herum, sich mit Improvisation zu beschäftigen. Zur Zeit Johann Sebastian Bachs und auch vor und direkt nach ihm war es gängige Praxis, dass am Cembalo nur die bezifferte Bassstimme auslag – und anhand der Ziffern wurde die gesamte zugehörige Harmonie improvisiert.
Professionelle Cembalist:innen können das noch heute. Auch Kirchenmusiker:innen an der Orgel müssen improvisieren können. Und Solist:innen, die Barockmusik spielen, experimentieren mit Verzierungen, die bspw. in langsamen Sätzen erwartet werden – notiert aber sind sie häufig nicht.
Oben im Video schließt an den ersten der zweite Satz direkt an. Ich kann mir nicht nicht vorstellen, dass Beethoven in diesem Satz nicht frei verziert und phantasiert hat. Oder was denkst Du?
Für Feinschmecker:innen: die Synkopenstelle im Finale
Mehr Stress, aber nicht weniger Spaß hatte er wahrscheinlich im dritten Satz des 2. Klavierkonzerts. Ich habe hier eine Aufnahme mit dem Pianisten Kristian Bezuidenhout ausgesucht. Witz, Elan und gute Laune der Musiker:innen gefallen mir sehr
Es beginnt: das Klavier. Auch in diesem Satz ist das Thema achttaktig (pro Takt je 6 Achtel). Auch hier stützt die Struktur die Freiheit der Solostimme.
Besonders schön ist die Passage ab Minute 2:10:
In dieser Passage sind die Betonungen noch deutlicher auf den jeweils zweiten und fünften Schlag des 6/8-Taktes verschoben als sonst in diesem geistreich-verspielten Satz.
Ein 6/8-Takt ist in zweimal drei Achtel gegliedert. Die Schwerpunkte liegen also auf Schlag 1 und 4. Aber daran muss man sich ja nicht halten, siehe/höre oben.
An die Schwerpunkte hält sich in der genannten Passage durchgehend brav die linke Hand, also die Bassstimme des Pianisten. Das kann man hören und sogar sehen.
Und die rechte Hand? Die hält dagegen, mit Betonungen auf dem Schlag nach der Betonung in der Rechten, mit Überbindungen, die die verschobene Betonung in den folgenden Takt hineintragen. Und in der vierten Version dieser kurzen Passage gibt es sogar – neuerlich – auch Betonungen auf Schlag 3 bzw. 6.
Wer neugierig ist, kann oben die Wiedergabegeschwindigkeit z. B. auf die Hälfte drosseln (rechts unten in der Ecke, links neben dem YouTube-Schriftzug auf das Zahnrad und dann auf Wiedergabegeschw. 0,5 klicken).
Das klingt dann nicht mehr ganz gut. Aber man kann leichter mitdenken.
Viel Spaß beim Hören!