Mozarts Klarinettenkonzert
Wenn mich jemand nach dem einen Stück fragen würde, das man einmal hören müsste, um ein Gespür dafür zu bekommen, was klassische Musik ist, dann würde ich sagen: Hör Dir Mozarts Klarinettenkonzert an. Klassischer geht’s nicht.
Auf YouTube gibt es eine Menge guter Aufnahmen dieses Konzerts. Das Video unten habe ich ausgesucht, weil der Dirigent die Musik atmen lässt, weil der Solist Lautstärke und Artikulation, aber auch Farben und Stimmungen schön differenziert; außerdem schaue ich gern in fröhliche Gesichter, und im Orchester unten gibt es viele lächelnde Blickkontakte.
Das passt sehr gut zu diesem Konzert, das so fein kammermusikalisch gearbeitet ist, dass man es gut auch mit einem erweiterten Streichquartett begleiten könnte. Nur würde dann der orchestrale Klangcharakter des Ganzen verloren gehen, der eben auch zu diesem Konzert gehört.
Mozart, Klassiker der Klassik
Mozart ist einer jener Komponisten, deren Werke den Maßstab für die Frage und das Werturteil bilden, ob Stücke aus der Epoche der Klassik für diese Epoche typisch waren und womöglich über sie hinausweisen, weil sie als mustergültig gelten und damit quasi zeitlos werden.
Mit anderen Worten: Mozart ist nicht nur ein Klassiker, sondern er ist ein Klassiker der Klassik, weil er in der Epoche der Klassik mit für diese Epoche typischen Mitteln stilistisch mustergültig gearbeitet hat.
In seinem Klarinettenkonzert verwendet er Ausdrucksmittel, die für die Epoche der Klassik als typisch und in der Art ihrer Verwendung für Mozarts Schaffen als herausragend gelten können.
Immanenz der klassischen Musik
So könnte man argumentieren, wenn man einen offen normativen Begriff des Klassischen zugrunde legt. Raffinierter arbeitet Charles Rosen in seinem Buch Der klassische Stil. Haydn – Mozart – Beethoven. Er teilt, wie er im Vorwort sagt,
»nicht die Ansicht, daß die größten Künstler sich nur vor dem Hintergrund der sie umgebenden Mittelmäßigkeit wirkungsvoll abheben, daß also Haydn, Mozart und Beethoven ihre dramatische Wirkung aus der Verletzung der gängigen Muster ziehen, auf die das Publikum durch ihre Zeitgenossen eingestellt war.«
Und Rosen begründet sein Argument damit, dass wir die Werke dieser Komponisten auch heute noch – so formuliere ich – ›wie neu‹ hören können, weil
»unsere Erwartungen nicht von außen an das Werk herangetragen werden, sondern im Werk angelegt sind. Ein Musikstück schafft sich seine eigenen Bedingungen und Maßstäbe.«
Inwieweit ein solcher immanenter Begriff klassischer Musikstücke inmitten ihrer historischen Kontexte überhaupt aufrechtzuerhalten ist, diskutiert Rosen dann im Folgenden.
Interessant für diesen Text ist seine Einschätzung, derzufolge die von ihm im Untertitel seines Buchs genannten Komponisten Haydn, Mozart und Beethoven sich darin gleichen, wie sie die musikalische Sprache ihrer Zeit auffassen, die sie als solche überhaupt formuliert und weiterentwickelt haben.
Übergänge in Mozarts Klarinettenkonzert
Ein Aspekt der musikalischen Sprache der Klassik ist ihre Syntax, also ihre rein formale Gliederung durch regelmäßig wiederkehrende, konstruktive Muster, derer sich die genannten Komponisten, aber nicht nur sie, immer wieder bedient haben.
Das können beispielsweise achttaktige Perioden sein, wie ich sie hier für Beethovens zweites Klavierkonzert beschrieben habe (mit Hörbeispielen). Im vorhin verlinkten Text kannst Du zum Vergleich auch anhören, wie Mozart in seinem Jenamy-Konzert solche Perioden überlappen lässt.
In seinem Klarinettenkonzert treibt Mozart, Charles Rosen zufolge, dieses Prinzip einander »überlappender rhythmischer Perioden« auf die Spitze. Das bedeutet, kurz gesagt, dass im Klarinettenkonzert sehr häufig nicht mehr unmittelbar zu unterscheiden ist, welche Funktion rhythmische, aber auch melodische Verläufe an den Nahtstellen solcher Perioden innehaben.
Zählen solche Takte zur vorangehenden Periode? Oder zur nächsten? Handelt es sich dabei um Überleitungen oder eigenständige (Teile von) Perioden? Wo fängt die eine Phrase an? Wo hört die andere auf?
In Mozarts Klarinettenkonzert entsteht durch dieses Verfahren der Eindruck einer federleicht dahinschwebenden, beinahe zeit- und grenzenlosen Melodie. (Und welches Instrument könnte schöner singen als die Klarinette?) Weil aber diese Melodie, typisch für Mozart, wiederum aus Melodien zusammengesetzt ist, bleibt zugleich der Eindruck von Ordnung, die aber nie streng wirkt (wie bspw. in der strikt achttaktig organisierten Passacaglia in Brahms vierter Symphonie), sondern geradezu befreiend – vielleicht auch für den eigenen Atem beim inneren Mithören.