Die erste Symphonie von Florence Price
Eine Einleitung von sechs Takten, angeführt vom Fagott, pentatonisch aufgebaut. Dann eine Fermate. Danach hören wir das erste Thema, ebenfalls pentatonisch gebaut – also basierend auf einer Skala aus fünf Tönen. Die Klangfarben sind geprägt von den Holzbläsern, zunächst Oboe und Fagott. Der Einstieg zu dieser Symphonie könnte von Dvořák stammen. Tut er aber nicht. Es ist der Beginn der ersten Symphonie von Florence Price:
Amerikanische Symphonie?
Dvořáks Symphonie Nr. 9 aus dem Jahr 1893 mit dem Beinamen »Aus der Neuen Welt« hatte, wie Rae Linda Brown in ihrer Biographie von Florence Price schreibt, einen großen Einfluss auf die erste Symphonie dieser Komponistin, die 1887 in Little Rock, Arkansas, geboren wurde. (Einen kurzen Einführungstext gibt’s im Programmheft zur Erstaufführung dieser Ersten durch das Philadelphia Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin im November 2020.)
Antonín Dvořák war Anfang der 1890er Jahre von der vermögenden amerikanischen Musikliebhaberin Jeanette Thurber gegen ein fürstliches Gehalt an das National Conservatory of Music of America in New York berufen worden, paradoxerweise, um das Musikleben in den USA vom Einfluss der europäischen Kunstmusik unabhängiger zu machen.
Dvořák, der international berühmte Böhme, sollte seine Erfahrung als ›Nationalkomponist‹ nutzen, ein nationales amerikanisches Idiom in die dortige Kunstmusik hineinzutragen, die sich – als Kulturimport aus Europa – mit einer damals kaum zu vermeidenden Verspätung entwickelte. Die Kunstmusik im Europa des 19. Jahrhunderts galt immer auch als ein Medium nationaler Selbstvergewisserung. Amerika aber holte auf, institutionell wie ästhetisch.
In seiner Symphonie »Aus der Neuen Welt« hat Dvořák es geschafft, im Gewand einer der wichtigsten Gattungen der europäischen Instrumentalmusik Anklänge an amerikanische Volksmusik zu vertonen, darunter auch Musik der schwarzen Sklavinnen und Sklaven.
Es sind eher Anklänge als Zitate. Die eingangs schon erwähnte Pentatonik zum Beispiel ist typisch für afrikanische Volksmusik. Aber fünftönige Skalen finden sich außerdem in der Volksmusik Europas und auch Asiens. Und womöglich hat gerade das dazu beigetragen, dass Dvořáks Neunte nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt so gerne gehört wird. Sie klingt ein bisschen fremd – und vertraut.
Die erste Symphonie von Florence Price
Zwischen Dvořáks Neunter, die im Dezember 1893 in New York uraufgeführt wurde, und der ersten Symphonie von Florence Price liegen 40 Jahre.
Komponiert Anfang der 1930er, wurde die Erste von Florence Price zugleich zur ersten Symphonie einer schwarzen Frau – soweit wir wissen -, die je von einem großen amerikanischen Symphonieorchester gespielt wurde. Uraufgeführt hat sie im Jahr 1933 das Chicago Symphony Orchestra unter Frederick Stock.
»[A]n examination of Price’s symphony reveals«, so schreibt Rae Linda Brown, »that she thoroughly studied Dvořák’s score. In its overall content, formal organization, orchestration, and spirit, she seems to have taken the Bohemian composer’s directive quite personally.«
Rae Linda Brown: The Heart of a Woman. The Life and Music of Florence B. Price. Urbana: University of Illinois Press 2020, S. 128.
Die Symphonie steht in e-Moll und ist geprägt von einem unheimlich feinen Klangsinn. Es mag schon sein, dass Price, wie Alex Ross schreibt, sich in ihrer ersten Symphonie manchmal in Klischees aus dem 19. Jahrhundert bewegt. Die Frage bleibt halt, wie man diese Wertung bewertet.
Dvořák war ein weißer Mann. Florence Price eine schwarze Frau auf einem verspäteten Kontinent. Das sagt nichts über die Qualität ihrer Musik aus, aber viel über die Möglichkeiten, die den beiden in ihrem Leben offenstanden.
Alex Ross diskutiert das offen und er resümiert in seinem oben verlinkten Artikel treffend:
»The anachronisms in Florence Price’s music are, in the end, no flaw. Listening to her, I have the uncanny sense of hearing the symphonies and operas that women and African-Americans were all but barred from writing during the Romantic heyday, when the busts on the piano were being carved. She seems to speak from an imaginary past, from an alternative history of an America that lived up to its stated ideals.«
Und wie hört sich das an?
Vielleicht hat sich Florence Price beim Studium von Dvořáks Neunter manchmal gedacht: Na was Du kannst, kann ich auch.
Und vielleicht konnte sie es sogar besser!
Im dritten Satz ihrer Ersten komponiert sie, anders als die europäische Tradition es vorzuschreiben scheint, anders auch als Dvořák in der Neunten, kein Scherzo, sondern – schelmisch – einen afroamerikanischen Juba Dance.
Wenn man daran denkt, wie lange es üblich war, als dritten Satz einer Symphonie ein Menuett (Haydn, Mozart etc.) und später (nicht nur Beethoven…) ein Scherzo zu komponieren, dann kann man vielleicht schon ansatzweise ermessen, welche innere Unabhängigkeit dazu gehört haben muss, sich gegen diese Konvention zu entscheiden, um im Rahmen der symphonischen Tradition so gekonnt wie gewandt ein unmissverständliches, hochinnovatives Zeichen der eigenen Herkunft und Kultur zu setzen.
Rae Linda Brown, ohne deren jahrzehntelange Arbeit das Leben und Schaffen von Florence Price sehr viel weniger bekannt wären, hat auch zu diesem Juba Dance die Komponistin selbst zu Wort kommen lassen:
»In all of my works which have been done in the sonata form with Negroid idiom, I have incorporated a juba as one of the several movements because it seems to me to be no more impossible to conceive of Negroid music devoid of the spiritualistic theme on the one hand than strongly syncopated rhythms of the juba on the other.«
zit. nach Rae Linda Brown: The Heart of a Woman, S. 131.
Ich habe nichts gegen Dvořáks Neunte. Ganz im Gegenteil. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an Konzerte, in denen ich sie gehört habe. Ich würde nur gerne genauso häufig die Gelegenheit haben, die Erste von Florence Price zu hören wie Dvořáks wirklich häufig gespielte Symphonie über die Neue Welt.