Der Sacre von Strawinski
Letzten Mittwoch war ich zum ersten Mal in der Elbphilharmonie in Hamburg, es gab Beethovens Siebte und den Sacre du Printemps von Igor Strawinski. Ich hatte einen Platz zwei Stockwerke über der Ebene, auf der sich die Bühne befindet. Deshalb konnte ich das Orchester sehr gut sehen. Gut geklungen hat es auch. Die delikate Akustik dieses architektonisch so besonderen Saals hat sich bei diesem Programm überhaupt nicht störend bemerkbar gemacht.
Warum nicht klatschen?
Nicht einverstanden allerdings war einer der weißhaarigen Herren zwei Reihen vor mir, als die Leute zwischen den Sätzen der Symphonie von Beethoven geklatscht haben. Geäußert hat der Mann seinen Unwillen, soweit ich das von hinten mitbekommen konnte, nur durch langsames Kopfschütteln, jedesmal wieder, wenn der Applaus aufbrandete. So geht Resignation.
Was hätte er auch sonst tun sollen? Schließlich gab es zuverlässig nach jedem der Sätze Applaus. Und auch wenn bei weitem nicht alle im Publikum geklatscht haben, hat es auch noch so gewirkt, als wäre der Applaus völlig normal, willkommen und vielleicht sogar erwünscht (möglich, dass die Musiker:innen im Orchester das anders wahrgenommen haben).
In den Klassikkonzerten, in die ich sonst gehe, klatscht normalerweise keine:r zwischen den Sätzen. Die Stille zwischen den Sätzen kann zur Musik gehören, auch wenn das nicht in jedem Konzert gleichermaßen zelebriert wird.
Der Moderator des Konzerts am vergangenen Mittwoch jedenfalls hat vor dem zweiten Stück des Konzertabends gebeten: »Nicht klatschen, das ist Spannung!« Und das hat dann auch funktioniert.
Ich habe erst nach dem Konzert erfahren, dass sich die Reihe, in der das Konzert stattfand, auch und vielleicht vorwiegend an Einsteiger:innen wendet. Es gibt in der Elphi sogar eine Reihe ganz ausdrücklich für Einsteiger (Link hier).
Dass der zweite Satz aus Beethovens Siebter bei der Uraufführung vor 211 Jahren auf Wunsch des Publikums wiederholt werden musste, ist ein anderes Thema. Die werden doch nicht zwischen den Sätzen geklatscht haben?
Möglich übrigens, dass der Herr mit den weißen Haaren sich einfach geärgert hat, dass die Leute die Hinweise auf der Website der Elbphilharmonie nicht gelesen haben, die Tipps für den Konzertbesuch, die ich hier gerne verlinke, weil ich sie so gekonnt zusammengestellt und formuliert finde – und weil sie sich vor allem auch an Neulinge richten.
Der Sacre du Printemps von Igor Strawinski
Bei der Uraufführung der Ballettversion von Igor Strawinskis Sacre du Printemps am 29. Mai 1913 in Paris gab es einen Skandal. Er ist legendär geworden und so berühmt, dass man ihn, wenn man über den Sacre schreibt, nicht nicht erwähnen kann – ich belasse es bei einem Link auf einen sehr informativen Text zum Thema von Melanie Unseld.
Der Aufruhr im Publikum damals hatte viele Gründe. Einer davon war die Handlung, angesiedelt im heidnischen Russland: Ein auserwähltes junges Mädchen muss sich am Ende eines längeren Zeremoniells zu Tode tanzen, um den Frühlingsgott milde zu stimmen, auf dass das neue Jahr zumindest gut anfängt; alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen zu.
Die Erstaufführung der konzertanten Version dieses Stücks im Jahr 1914 in Paris war ein Erfolg. Man wusste ja, was kommt. Und dass man von der wüst in neuem Stil getanzten Handlung verschont blieb, kam dem Stück damals vermutlich ebenfalls zugute.
Etwas aufgeben, um etwas anderes möglich zu machen
Was Strawinski in seinem epochemachenden Stück tut, ist ganz einfach. Es musste nur jemand machen. Er emanzipiert gewissermaßen den Rhythmus von allen anderen Parametern des musikalischen Geschehens. Und er macht ihn zu der treibenden Kraft, die er vielleicht immer schon war. Nur war es unter dem Wohlklang klassischer, romantischer oder auch noch spätromantischer und impressionistischer Musik nicht weiter aufgefallen.
Es gibt zwar natürlich auch in diesem Stück Melodien. Ein Beispiel ist das Fagottsolo in sehr hoher Lage gleich zu Beginn, unten ab Minute 1:20:
Aber was die Wahrnehmung überwältigt, ist der Rhythmus und der unglaubliche Reichtum an musikalischen Ideen, die Strawinski aus ihm heraus entfaltet.
Strawinski opfert nichts. Aber er gibt musikalische Vorstellungen auf, die vielen Menschen damals und vielleicht auch heute lieb und teuer waren. Der Verlust lässt sich verschmerzen. Den Vorstellungen tut’s ja nicht weh, wenn man sich einfach etwas anderes vorstellt.
Vielleicht hat Igor Strawinski mit seinem Sacre du Printemps den Beweis dafür angetreten, dass man sich, um etwas Neues zu schaffen, gar nichts Neues vornehmen muss. Manchmal reicht es schon, einen neuen Blick auf das zu riskieren, was schon da ist. Und notfalls ein paar überkommene Prioritäten zu verwerfen.