Antonín Dvořáks »Amerikanisches« Streichquartett
Antonín Dvořák hat sein »Amerikanisches« Streichquartett im Jahr 1893 in den USA komponiert. Eines Tages, so hat sich sein Sohn Otakar erinnert, habe der Vater ihn und seinen Freund zu einem seiner Spaziergänge am Turkey River bei Spillville mitgenommen, wo sich der Komponist von seinen Aufgaben in der Großstadt New York erholte. Der Sohn und sein Freund könnten ja angeln gehen, damit es nicht so langweilig wird.
Den letzten Halbsatz hat Antonín Dvořák so eventuell nicht gesagt. Aber ich unterstelle ihm, dass das die Botschaft war, die er seinem damals 8-jährigen Sohn mit auf den Weg geben wollte.
Mal schnell gemeinsam rausgehen
Wenn ich versuche, meinen Sohn zum Rausgehen zu bewegen, dann muss ich mir auch meistens etwas Besonderes einfallen lassen, zumindest eine Kleinigkeit. Ganz ohne Anreiz geht es nicht. Angel haben wir keine. Oft klappt es trotzdem. Im Sommer wegen Eis. Aber bevor wir loskommen, muss sicher jemand nochmal kurz ins Bad oder irgendetwas Dringendes erledigen.
Die sich gegenseitig verstärkenden Langsamkeiten einer Kleinfamilie beim Versuch, gemeinsam aus dem Haus zu kommen kann sich vermutlich jede:r vorstellen, der solche Situationen mit Familie oder sonstigen Mitbewohner:innen, Gästen, Kolleg:innen etc. einmal erlebt hat, egal in welcher Rolle.
Der eine hat seine Mütze vergessen. Die andere ihren Schal. Der dritte hat sich versehentlich ausgesperrt. Glücklicherweise hat die vierte aber ihren Schlüssel dabei. Ich werde unruhig, wenn ich nicht nochmal gecheckt habe, ob der Herd aus ist. Jemand anderer will vielleicht kurz noch die Pflanzen gießen; schließlich sind noch nicht alle fertig. Und hat eigentlich jemand Tempos einstecken?
Zum neuen Jahr habe ich mir mangels guter Vorsätze aus einem spontanen Einfall heraus zwei Sprachlern-Apps auf mein Smartphone geladen, mit denen ich mich in solchen Momenten inzwischen sehr gerne beschäftige.
Möglich, dass ich bald mehr kann als nur ein paar Brocken Spanisch. Die Lerneinheiten sind kurz, dauern maximal ein paar Minuten und sie sind leicht genug, dass ich währenddessen nicht zu sehr ins Grübeln komme – hallo, kommst Du endlich??
Auch mein Alltagsenglisch kann ich per App gut pflegen. Oder ein bisschen Italinenisch fürs Café. Ich kann ungefähr 15 Wörter. Aber wer weiß, wie weit ich komme? Spaß macht es auch. Mein Smartphone benutze ich inzwischen – unerwarteter Nebeneffekt – weniger als vorher, aber konzentrierter.
Leute aus meinem Umfeld finden meine Idee gut. Außerdem werde ich jedes Mal, wenn ich eine Lerneinheit erfolgreich absolviert habe, sehr gelobt: »Das war super, Michael!« schreibt mir die App. Great, denke ich mir und muss auch schon los.
Und die Dvořáks?
Ich weiß nichts Genaues über die Situation, als die Dvořáks 1893 in Spillville gemeinsam aus dem Haus gegangen sind. Aber als der Sohn und sein Freund am Turkey River gerade die Köder gesteckt und die Angel ausgeworfen hatten, kam der Vater anmarschiert und sagte: »Packt ein, wir gehen nach Hause«.
Die Jungs waren angemessen verdattert. Sie waren doch grade erst angekommen. Aber der Komponist sagte bloß: »Ich habe meine Manschetten schon vollgeschrieben und es gibt keinen Platz mehr, um noch Weiteres hinzuzufügen.« (Hier bei BR-KLASSIK gibt’s den O-Ton in den Worten des Sohns.)
Weiter können wir in Karl Böhmers Einführungstext lesen:
»Zu dieser Zeit schrieb Vater gerade sein Quartett F-Dur, op. 96 [Dvořáks »Amerikanisches« Streichquartett, M. P.] … Die Motive dazu sind ihm in meiner Nähe an den Ufern des Turkey River eingefallen, wo so mancher Fisch mir nur deshalb wegschwamm, weil seine Hemdmanschetten bereits voller Noten waren. Vater brachte vom Fluss den ganzen Aufbau eines Satzes mit, während ich mit leeren Händen heimkehrte.«
Es ist ein wunderbar im Volkston gehaltenes Streichquartett geworden, typisch für Dvořáks Musik, die so reich ist an Ideen, an melodischen Einfällen und schönen Harmonien, dass man leicht überhören kann, wie selbstverständlich der Komponist außerdem auf einer abstrakt formalen Ebene arbeitet:
Bis Minute 4:55 hören wir unten im Video die Exposition, die bis dahin einmal komplett wiederholt wird. Darin gibt es – mindestens – zwei Themen. Das erste wird zunächst auf der Bratsche gespielt, von der Musikerin rechts außen. Ein zweites beginnt als Melodie in der ersten Geige, zum ersten Mal ab Minute 1:35.
Es braucht etwas Übung und dauert – so mein Gehörbildungslehrer im Studium – lang, zu lernen, solche Formen nach und nach ohne fremde Hinweise selber entdecken. Oft brauche ich eine Partitur dazu. Reizvoller ist es ohne. So oder so lassen sich die formalen Elemente nicht immer gleich einfach voneinander unterscheiden. Egal.
Es ist ein bisschen wie beim Lernen einer Fremdsprache. Schön sind die Momente, in denen man anfängt, sein Gegenüber zu verstehen. Und vielleicht noch schöner, wenn einem vor dem inneren Auge beim Zuhören schon plötzlich selbst die Wörter und Sätze einfallen, die man in der Fremdsprache gerne antworten möchte.
Kannst Du Dir, während das erste Thema nach Minute 4:55 bald nur noch in unvollständigen Einzelteilen gespielt wird, den melodischen Beginn dieses Anfangsthemas der Bratsche vorstellen, ohne ihn zu summen?
Die Melodie wird wiederkommen, noch im ersten Satz. Hörst Du, wann?
Diese sog. Reprise beginnt – (meine Antwort unter dem Video, ich will nicht spoilern)
gut vorbereitet
ab
Minute
6:40.