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Leiser Taumel

Goethes Erlkönig in der Vertonung durch Peter Grønland

Goethes Erlkönig ist so häufig vertont worden, dass man meinen könnte, es gibt dieses Gedicht nur mit Musik. Dabei trägt Goethes Ballade Rhythmen und Satzmelodien in sich, die nach einer Vertonung gar nicht unbedingt schreien. Man kann also fragen: Wieso – und wie – soll man den Erlkönig überhaupt mit Musik unterlegen? Oder anders gefragt: Wie willst Du ihn am liebsten hören?

Hineinzoomen in Goethes Ballade

Es ist doch im Text allein schon alles da: der eine unaufhörliche Unruhe vermittelnde Rhythmus mit seinen vier Betonungen pro Verszeile und ein oder zwei unbetonten Silben dazwischen – ein Galopp? Herzklopfen? Ein nicht ganz regelmäßiger Pulsschlag? Hektischer Atem?

Wenn man das laut oder vielleicht besser noch stumm liest, ist dieser Rhythmus eigentlich auch ohne Musik nicht zu überhören, selbst wenn man sich den Text nur vorstellt.

Inhaltlich beginnt es mit dem Vater, der Sicherheit ausstrahlen soll und der das in der ersten Strophe vielleicht auch noch tut:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.

Aber in der zweiten Strophe gibt es einen Sprecherwechsel. Es ist keine reine Stimmungslyrik, sondern zunächst ein erzählendes Gedicht, das von außen auf die Szenerie schaut, nur um dann direkt in der zweiten Strophe direkt in die Szene hineinzugehen. Die Figuren dieses kleinen Dramas erhalten jetzt selbst eine Stimme:

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? —
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? —
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —

links vorne auf einem Schimmel der Vater mit seinem Kind, darüber unheimlich weiß der Erlkönig, rechts im Bild seine Töchter, alle inmitten eines vergleichsweise dunklen Waldes
Die Szenerie rund um Vater, Kind und Erlkönig, wie Moritz von Schwind sie gemalt hat, via Wikimedia Commons

Sprecherwechsel und Interaktionen

Der Vater fragt. Der Sohn antwortet durch Fragen. Dass er Angst hat, wissen wir, weil der Vater dem Sohn die Angst im Gesicht ansieht. Und weil der Vater den Sohn beruhigen möchte. Aber es hilft nichts. Jetzt spricht jemand, den wir mit dem Sohn als Erlkönig identifizieren können:

»Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.«

Der Paarreim (zwei aufeinander folgende Zeilen, die sich am Ende reimen) unterstreicht nachher mehrfach die unterschiedlichen Sprecher, in der jetzt folgenden vierten Strophe zum Beispiel spricht in den ersten beiden Versen das Kind, dann der Vater:

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? —
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. —

Und dieses Schema setzt sich, nachdem in Strophe fünf erneut der Erlkönig gelockt hat, in Strophe sechs fort: Der Sohn fragt ängstlich und verloren, der Vater beschwichtigt.

In Strophe sieben wechseln die beteiligten Figuren. Nicht mehr nur Kind und Vater, sondern am Ende Erlkönig und Kind interagieren – hört der Vater den letzten Satz?

»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.« —
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!

Rahmen und Ende des Gedichts

In Strophe acht spricht wieder ein Erzähler:

Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Das Gedicht ist also gerahmt von zwei Strophen, in denen jeweils eine Art Stimme aus dem Off spricht. Und in den Strophen zwei bis sieben sind wir mittendrin in dem perspektivenreichen Drama, das Goethe uns hier bietet: Der Vater glaubt dem Kind nicht. Oder zumindest sieht er nicht, was das Kind sieht, nimmt es jedenfalls anders war – oder nimmt etwas Anderes für wahr.

Ob der Erlkönig existiert oder nicht, wer weiß? Warum es am Ende auch der Vater mit der Angst zu tun bekommt, bleibt offen: Nimmt auch er den Erlkönig wahr? Oder ängstigt er sich um das Kind? Am Ende ist das Kind tot. Ein schlimmes Ende. Ein gelungenes Gedicht. Inhaltlich und formal. (Den gesamten Text gibt es z. B. hier.)

Goethes Erlkönig – die Vertonung von Franz Schubert

Goethes Erlkönig ist nicht nur von Franz Schubert vertont worden, sondern auch von so unterschiedlichen Komponisten wie z. B. Johann Friedrich Reichhard, Carl Friedrich Zelter oder Carl Loewe. Auch von Beethoven gibt es Skizzen zu einer Vertonung.

Eine vollständige Vertonung gibt es von der Sängerin und Komponistin Corona Schröter. Und seit wenigen Monaten gibt es eine Weltersteinspielung der Erlkönig-Liedfassung des dänisch-deutschen Komponisten Peter Grønland. (weitere Beispiele listet Wikipedia auf.)

Die wohl mit Abstand bekannteste Vertonung ist die durch Franz Schubert, ein kunstvoll durchkomponiertes Lied, das die Strophengliederung weniger betont, dafür aber den Rhythmus des Gedichts auf die Spitze treibt und die unterschiedlichen Sprecherpositionen deutlich als solche charakterisiert – am pointiertesten vielleicht in den Strophen, in denen der Erlkönig eine Stimme bekommt: Die begleitenden Klaviertriolen klingen wie ein hektischer, ja hysterischer Walzer. Sie unterstreichen die Unruhe, die das Kind empfinden muss, als der Erlkönig es umwirbt (u. a. ab Minute 1:31):

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schuberts Vertonung von Goethes Erlkönig, Gerald Moore spielt den Klavierpart.

Die Vertonung ist nicht umsonst bekannt und sehr beliebt. Im Vergleich zu den Versionen von Reichardt oder Zelter zum Beispiel fällt bei allem, was Schubert musikalisch aufbietet, im Grunde vor allem auf, was bei ihm nicht mehr nachdrücklich zur Geltung kommt, und das ist die Regelmäßigkeit, ja Gleichförmigkeit der Strophen, die in der reinen Textversion von Goethe gegenüber Schuberts Vertonung geradezu eintönig wirken.

Schubert betont, viel stärker als Reichardt oder Zelter, die verschiedenen Sprecherinstanzen. Und dadurch schafft er eine dramatische Szene, wie eine Art Mini-Oper. Auf die Hörer:innen im frühen 19. Jahrhundert, sofern sie vergleichsweise unaufgeregte, zurückhaltende Strophenlieder gewohnt waren, muss Schuberts Erlkönig-Vertonung ein bisschen gewirkt haben wie ein Videoclip auf MTV, wenn man vorher nur rauschendes Analogradio gewohnt war.

Goethes Erlkönig in der Vertonung durch Peter Grønland

Auf einer edlen Schallplatte stattdessen stelle ich mir die Vertonung von Peter Grønland vor, die sich Strophe für Strophe wie stoisch an die Gliederung hält, wie sie Goethe vorgibt.

Anders als Reichardt, Zelter oder gar Schubert verfährt Peter Grønland so, dass er jede Strophe gleich vertont – ich hoffe, ich verhöre mich nicht, Partitur liegt mir keine vor.

Der Effekt ist, wenn man Schuberts Version kennt, erst einmal der einer Entzugserscheinung: Es fehlt Schuberts unbändige Dramatik. Es fehlt das fast übersteigerte Tempo (sehr unangenehm zu spielen, die Triolen in Schuberts Klavierbegleitung). Es fehlt die Wendigkeit im musikalischen Ausdruck – vielleicht aber fehlt eben auch die fast zudringliche emotionale Wucht, mit der Schuberts Vertonung einen beim Hören konfrontiert und der man sich kaum entziehen kann; Schuberts Musik lässt einen nicht los, und das passt ja zum Text.

Zu Goethes Erlkönig passt aber eben auch ausnehmend gut Peter Grønlands Version, die die Gleichförmigkeit der Strophen- und Versgliederung betont und dadurch den Text nicht hochemotional-dramatisch, sondern ganz lakonisch deutet.

Äußerlich ändert sich nichts, während sich alles ändert: Während Schubert das Geschehen individualisiert und die Hörer:innen geradezu in das, was geschieht, hineinzieht, bleibt Grønlands Vertonung distanzierter, allgemeiner, so als wäre ihre bittere Botschaft: So etwas geschieht jeden Tag, immer wieder.

Die Melodie, die Grønland sich ausgedacht hat, wirkt kunstvoll verschnörkelt, fast barock, was vielleicht kein Zufall ist, denn er hat Johann Sebastian Bach sehr geschätzt.

Wenn ich die nicht weniger ausgezierte Klavierbegleitung höre, dann assoziiere ich einen Scherenschnitt, eine Art Schattenriss, was das Geschehen noch einmal in weitere Ferne zu rücken scheint.

Effekt der Gleichförmigkeit

Ich habe mich gefragt, welchen Effekt es eigentlich hat, wenn Grønland seine musikalischen Strophen schablonenhaft gleichförmig immer wieder wiederholt. Man könnte ja meinen: Mensch, der Text erzählt doch eine furchtbare Geschichte. Da muss die Musik doch reagieren! Die muss sich doch in irgendeiner Weise dazu verhalten.

Tut sie auch, und zwar unter anderem so: Wenn man sich die jeweils letzten Zeilen der einzelnen Strophen von Goethes Erlkönig anschaut, dann fällt auf, dass in drei der acht Strophen die letzten Zeilen anscheinend der Stimme der Vernunft gewidmet sind, die der Vater möglicherweise verkörpert: »Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif«, sagt er, »In dürren Blättern säuselt der Wind«, und »Es scheinen die alten Weiden so grau«.

Zwei der letzten Zeilen gehören dem Erlkönig, und eine der Konfrontation des Erlkönigs mit dem Kind, in der vorletzten Strophe sagt es in der letzten Zeile: »Erlkönig hat mir ein Leids getan!«

Gerahmt werden diese Schlusszeilen von den Schusszeilen der Strophen eins und acht, die ihrerseits eine auffällige Klammer bilden: Denn während es in Strophe eins noch über den Vater, der seinen Knaben im Arm hält, heißt: »Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm«, ändert sich das Bild mit der letzten Zeile des Gedichts komplett: »In seinen Armen das Kind war tot.«

Eine leichte Verzerrung

Für diese letzte Zeile jeder Strophe hat Grønland ohne großen Aufwand eine chromatisch leicht verzerrte, kleine Melodiefloskel gewählt, die am Ende wirkt, als würde den Vater eine Ahnung davon beschleichen, was der Erlkönig für sein Kind bedeutet hat.

Und was auch immer es ist, das Gedicht bietet da einigen Interpretationsspielraum, es entzieht den Aussagen und der Position des Vaters den Boden unter den Füßen.

Die immer gleiche Melodie in dieser Vertonung von Goethes Erlkönig wirkt fast hämisch, jedenfalls tragisch: Der Vater hätte es wissen können und vielleicht wusste er es auch und konnte es trotz beruhigender Beteuerungen nicht ändern.

Der Tenor Reinaldo Dopp singt mit Albrecht Hartmann am Klavier die Vertonung von Goethes Erlkönig durch Peter Grønland.

Weltersteinspielung

Der Tenor Reinaldo Dopp hat zusammen mit Albrecht Hartmann am Klavier eine Auswahl an Goethe-Vertonungen durch Peter Grønland getroffen und – eine Weltpremiere – eine Reihe dieser Lieder auf CD eingespielt.

Zwischen den Blöcken mit je unterschiedlich vielen Liedern gibt es ein kleines Stück von J. S. Bach für Klavier solo, was Grønlands Lieder in einen passenden Kontext stellt, sodass man sich als Hörer:in gut in die eigentümliche und vielleicht im ersten Moment etwas ungewöhnliche Klangwelt des Liederkomponisten hineinfinden kann. Abwechslungsreich ist es auch.

Im Booklet informiert ein Text der Musikwissenschaftlerin Cordula Timm-Hartmann über den Komponisten und seine Lieder.

Transparenzhinweis:

Marita Goga, die die CD mit Goethe-Vertonungen von Peter Grønland produziert hat, war so freundlich, mir die CD zukommen zu lassen, weil wir uns vor Jahren auf Twitter einmal über dieses Projekt ausgetauscht hatten. Ich hatte mich bereit erklärt, etwas über die CD zu schreiben. Auf den Inhalt meines Textes, den ich ohne Vergütung geschrieben habe, hat Marita Goga keinerlei Einfluss.

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