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Zielvorstellung

Fußball, ein Straßengraben und Vivaldis Cellosonate e-Moll RV 40

Vor fast 12 Monaten ich angefangen, jede Woche einen neuen Text zu einem klassischen Musikstück zu bloggen. Bald habe ich ein Jahr voll. Der Countdown läuft.

Ich ächze schon länger ein bisschen, weil ich durch bezahlte Schreibaufträge momentan mehr als ausgelastet bin. Die Blogtexte schreibe ich in meinen freien Stunden, am Wochenende oder an langen Abenden.

Aber jetzt will ich es natürlich wissen: Dieser Text ist der erste von fünf, die noch fehlen. Fast schreiben sie sich von selber.

Fast.

Tor!

Ich erinnere mich an ein Fußballspiel in meiner Dorfvereinsmannschaft früher, sehr lange her. Wir waren im Grundschulalter.

Jemand schießt aus der Halbdistanz aufs gegnerische Tor. Der Torwart reagiert schnell, lässt den Ball aber abprallen. Dass der Ball hinter ihn gehüpft ist, sieht er nicht. Er schaut verwirrt, kniet noch. Hinter ihm der Ball hat sich zwischen seinen Rücken und die Torlinie geschoben. Er ist noch nicht im Aus.

Links in der gegnerischen Hälfte bin ich atemlos stehen geblieben, während der Ball nicht ins Tor ging. Ich sehe den Ball. Er liegt etwas seitlich vom Tor, aber sehr nahe an der Torlinie. Ich stehe günstig. Und renne hin.

Der Torwart versteht die Situation noch immer nicht.

Ich sehe mich schon jubeln. Es ist wie ein Elfmeter ohne Torwart, nur sehr viel näher dran.

Der Ball liegt hinter dem Torwart, der den Ball – anders als ich – immer noch nicht sieht.

Jetzt muss ich nur noch das Tor treffen. Klar. Und vorher natürlich den Ball, der nicht ganz ruhig liegt. Aber ruhig genug.

Ein Tor würde dem Spiel gut tun

Es ist mir unbegreiflich, wie man so danebenhauen kann. Ich spüre es heute noch.

Ich habe nicht einmal neben das Tor geschossen, sondern einfach nur am Ball vorbei. Im Gegensatz zum Torwart habe ich den Ball von Anfang an gesehen. Er lag fast direkt vor dem leeren Tor. Ich hatte mehrere Meter Anlauf und währenddessen Zeit zu zielen. Und ich habe den Ball nicht getroffen. (Eine Brille habe ich erst zehn Jahre später gebraucht.)

Immerhin so desolat gestriffen habe ich den Ball, dass der Torwart ihn letztlich doch noch in die Hände nehmen und ihn unter sich begraben konnte. Ihm konnte während meiner Aktion natürlich irgendwann nicht mehr verborgen bleiben, wo der Ball geblieben war. Ich habe ihm sehr geholfen.

Hab ich wenigstens den Pfosten getroffen? Schön wärs. Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich um die Kurve geschossen.

Eine Wunsch- – und wäre sie noch so schön – ist eben keine Zielvorstellung.

Ohne Fehler im Konzert

Mein Schuss war ähnlich manchen Momenten in Musikschulkonzerten Jahre später.

Manchmal lief es gut, wenn ich ein Stück auf dem Cello gespielt habe. So gut, dass ich irgendwann dachte: O cool, vielleicht schaff ich es heute ohne Fehler. Aber diesen Gedanken sollte man gar nicht erst aufkommen lassen. Er ist der erste Fehler. Verspielt hab ich mich dann normalerweise auch noch. Das ging ein paar Mal so, wenn die Vorfreude größer war als die Konzentration.

Ein anderes Mal ist mir in einem solchen Schülerkonzert kurz vor dem Ende einer Sonate von Vivaldi eingefallen: Mensch, jetzt könnte man doch hier noch schnell ein paar Verzierungen einbauen. Dabei war der Satz auch ohne Verzierungen eigentlich schon schnell genug.

Der Kopf eines Cellos mit edlen Verzierungen, statt der dort üblichen Schnecke
Was üblicherweise in Form einer Schnecke gestaltet ist, hier als Kopf, oben am Hals eines Cellos, hergestellt wahrscheinlich von Joachim Tielke um 1670/80, CC0, via Wikimedia Commons

Ich hab das mit den spontanen Verzierungen dann auch gemacht bzw. versucht. An die Verzierungen – und ob sie gelungen sind – kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur noch an das Schlingern danach irgendwo zwischen den notierten Noten – kurz nach meinem beherzt in die Tat umgesetzten Einfall.

Damals hat es mich musikalisch dermaßen aus der Kurve gehauen wie im Straßenverkehr nur ein einziges Mal als leichtgewichtiges Kind auf dem Rad. Da wurden die Schlangenlinien nach der bergab kommend zu schnell genommenen Kurve immer größer, und größer, zu treten habe ich nicht aufgehört, ich hab versucht, so schnell wie möglich zu treten, Gangschaltung hatte ich keine, trotzdem ging es so schön schnell, nur hat das Treten das Schlingern sehr verstärkt, so sehr, dass mich irgendwann der weich begraste, aber leider Wasser führende Straßengraben gnädig in die Arme genommen hat. (Ist nichts Schlimmeres passiert. War mir nur wahnsinnig peinlich vor den Spaziergängern, die das Ganze nicht übersehen haben können.)

Vivaldis Cellosonate e-Moll RV 40

Jahre später beim Schlingern in der Musikschule habe ich die letzten Takte der Vivaldi-Sonate immerhin noch zu Ende bringen können gleichzeitig mit meiner Klavierbegleiterin und ohne weitere Unfälle. Hauptsache, der Schlusston stimmt.

Unten im Video spielt Vivaldis Cellosonate e-Moll – die auch ich damals gespielt habe, aber langsamer – nicht perfekt, etwas hart vielleicht im Cello, aber trotzdem sehr schön und auch fetzig ein Ensemble live in Georgien.

Ich wette aber, dass der Cellist die Verzierungen am Ende des Schlusssatzes nicht spontan improvisiert, sondern sie sich vorher gründlich ausgedacht hat (die wilden Läufe ab Minute 9:34 und dann nochmal ab Minute 10:02, direkt vor dem Schlusston):

Beim Tibilisi Baroque Festival im Rustaveli Theater spielen Davide Amadio am Cello, Carmen Torrano am Kontrabass, Ètienne Galletier an der Theorbe und Anna Kurdovanidze am Cembalo Antonio Vivaldis Cellosonate e-Moll RV 40.

Christophe Coin spielt diesen Schlusssatz langsamer und dezenter; am Ende ohne die Verzierungen:

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