Gidon Kremers Ton und Distant Light von P. Vasks
In seinem Buch Kindheitssplitter von 1993 stellt sich Gidon Kremer die Frage, warum er eigentlich Geiger geworden ist. Dass sein Vater, seine Mutter, der Großvater und auch der Urgroßvater Geiger waren, genügt ihm als Antwort nicht mehr. Jetzt will er es genauer wissen. Und nebenbei erzählt er auch etwas über seinen Ton.
Gidon Kremers Tongebung
Ich habe Gidon Kremer vor ungefähr 20 Jahren einmal live erlebt. Er hat in Bamberg das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven gespielt. Und was mir wirklich im Gedächtnis geblieben ist, ist seine Tongebung, die mir vorgekommen ist, als hätte er eine ganz genaue innere Vorstellung davon, wie sein Ton klingen soll.
Und nicht nur das: Ich hatte den Eindruck, wichtiger als die Klangqualität ist die innere Form dieses Tons. Kremer hatte einen zwar schönen, aber für mein Gefühl keinen strahlenden, schmiegsamen oder auch nur annähernd süßlichen, schmelzenden Ton. Eher klang er leicht fragil, tendenziell brüchig, hell, intensiv, aber das waren für mich alles Äußerlichkeiten.
Es mag esoterisch klingen: Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals einen Geiger oder eine Geigerin solistisch live im Konzert erlebt hätte, deren Klangvorstellung so zwingend, scharf und mitteilsam gewesen wäre. Zumindest scheint es mir heute so. Vielleicht verkläre ich etwas in den Erinnerungen an meine ersten Studiensemester.
Den Ton ›in sich selber erhören‹
In Kindheitssplitter erzählt Gidon Kremer von seinem Großvater Karl Brückner, sehr zugewandt und ihn würdigend, und er resümiert:
»Ich weiß … nicht, ob ich viel von meinem Großvater gelernt habe. Sicher aber haben seine Neugier an allem Unbekannten und seine Behauptung, daß man den zu spielenden Ton erst ›in sich selber erhören‹ muß, den Gidon von heute mitgeprägt.«
Und sein eigenes Hören thematisiert Gidon Kremer wenig später noch einmal, diesmal aber in Bezug auf seinen Vater, der dem Sohn ein sehr strenger Lehrer gewesen sein muss.
»Seine Plattensammlung war ihm so wichtig, daß er sie in einem abgeschlossenen Schrank verwahrte, zu dem nur er den Schlüssel hatte. Ihr Schwerpunkt waren die Werke für Violine. Mein Vater versuchte, mir über diese Schallplatten Maßstäbe der Interpretation zu vermitteln. Ich war lange ein begeisterter Hörer seiner Sammlung. Erst als ich älter wurde und die Zeit des Suchens nach mir selbst begann, widersetzte ich mich dem Gewohnten und dem von ihm besonders Geschätzten.«
Dem Vater war das nicht recht. Oder zumindest konnte er nicht besonders gut damit umgehen, dass der Sohn plötzlich einen eigenen Hörgeschmack entwickelte. Langsam, so schreibt Kremer,
»erkämpfte ich mir das Recht, die Dinge anders zu sehen und zu hören. Zu Hilfe kamen mir dabei gelegentlich die Meinungen meiner Großeltern und die meiner Mitschüler. So dumm, wie mein Vater behauptete, konnte ich nicht sein. Ich war nur anders und begann, ich selber zu werden.«
Was ich an dieser Emanzipationsgeschichte danach am Bemerkenswertesten finde, ist, dass Kremer sich immer weniger für Einspielungen von Musik für Geige interessiert hat.
»Es ist seltsam, aber nicht arrogant von mir gemeint, daß ich bis heute kaum Platten von Geigern höre. Vielleicht habe ich zuviel gehört oder einfach genug zu tun mit den eigenen Klängen und meiner Auseinandersetzung mit dem Instrument.«
Distant Light von Pēteris Vasks
Der lettische Komponist Pēteris Vasks kennt Gidon Kremer, seit sie beide Kinder waren. Im Auftrag der Salzburger Festspiele hat Vasks auf Anfrage seines Jugendfreundes Kremer ein sehr schönes Konzert für Geige und Streichorchester komponiert, das laut Vasks auch durch seine Lektüre von Kremers damals neu erschienenem Buch Kindheitssplitter geprägt ist.
Vasks‘ Stück trägt den Titel Distant Light, und es ist Gidon Kremer gewidmet. Im Einführungstext des Schott-Verlages, in dem das Konzert erschienen ist, heißt es:
»Der Titel verweist auf den Vorschein einer besseren zukünftigen Welt in der Ferne, noch nicht zu erkennen, aber zu erahnen.«
Gidon Kremers Ton bringt diesen Vorschein schön zur Geltung.
(Hier gibt’s meinen Text zu Sofia Gubaidulinas Violinkonzert Offertorium, das ebenfalls für Gidon Kremer entstanden ist.)