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Zahlen, Formen, Zeit

Die erste Symphonie von Jean Sibelius

Schlechte Gewohnheiten können teuer sein. Von den Büchern, die ich seit meinem Studium aus diversen Bibliotheken ausgeliehen hatte, habe ich so viele zu spät zurückgegeben, dass ich innerhalb von gut 20 Jahren zwischen 100 und 200 Euro Mahngebühren bezahlen musste.

Davon hätte ich mir das eine oder andere Buch auch kaufen können. Von 100 Euro könnte ich aber auch einen Monat lang täglich einen Cappuccino in meinem langjährigen Lieblingscafé trinken, ein kleines Trinkgeld oder ein bisschen Gebäck inklusive.

Bevor ich diesen Blogartikel hier fertigschreiben kann, muss ich dringend noch das Buch von Wolfram Steinbeck über Bruckners Neunte Symphonie zurückgeben. Bis heute 20 Uhr ist es gratis. Ab morgen kostet es 7,50 Euro.

Ich finde diese Mahngebühr hoch. Aber auch wenn sie nur einen Euro betragen würde, wäre es natürlich meine eigene schlechte Gewohnheit, die mich diesen Euro kosten würde. Nur wäre sie dann wenigstens günstiger.

Zählen, zum Beispiel in den Symphonien von Anton Bruckner

Wer gern klassische Musik hört, kommt irgendwann um das Zählen nicht mehr herum.

Der Musikwissenschaftler Wolfram Steinbeck zum Beispiel schreibt in seinem Buch zu Bruckners Neunter ganz allgemein über die bausteinartigen Konstruktionen in Anton Bruckners Symphonien:

Unter jeden Takt jedes Satzes jeder Symphonie … hat Bruckner metrische Ziffern geschrieben. Mit ihnen bezeichnete er die Position eines Taktes in einem periodischen Gefüge, dessen kleinste Einheit sich stets aus zwei Elementen (Takten) zusammensetzt und dem Prinzip nach hierarchisch aufgebaut ist (1+1, 2+2, 4+4 etc.) … Der musikalische Prozeß beruht auf der Reihung festbegrenzter werkstückartiger musikalischer Einheiten. Wie Bausteine schließen sie sich zu Einheiten höherer Ordnung vielfältig zusammen, die wiederum wie ganze Bauteile zu größeren Baukomplexen aneinandergefügt werden.

Wolfram Steinbeck: Anton Bruckner. Neunte Symphonie d-Moll. München: Fink 1993 (Meisterwerke der Musik, H. 60), S. 18f.

Dass Reihungen, wie Steinbeck sie hier erwähnt, sich nicht in reiner Addition von Takten erschöpfen, versteht sich fast von selbst, wenn man fragt, wie denn Bruckners Bausteine zusammenhängen. Anders gesagt ›klebt‹ Bruckner natürlich nicht einfach Bausteine aneinander, um damit nur nach irgendeiner undurchsichtigen mathematischen Ordnung eine vorgegebene Anzahl von Takten zu füllen.

Worauf Wolfram Steinbeck im Zitat oben sehr prägnant aufmerksam macht, ist die Tatsache, dass Bruckner – wie ähnlich sehr viele Komponist:innen vor ihm – seine (symphonische) Musik nach einem Schema gegliedert hat, das sich auf eine kleinste Einheit reduzieren lässt. Steinbeck nennt bei Bruckner als kleinste Einheit zwei Takte.

Und aus dieser kleinsten Einheit entstehen nach und nach Zusammenhänge, die charakteristisch so klingen, wie sie klingen, weil sie die kleinsten Einheiten auf eine für die jeweiligen Komponist:innen oft recht typische Art und Weise verbinden.

Formen, bei Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms

Für Mozarts Klarinettenkonzert habe ich das im hier verlinkten Text, für Beethovens zweites Klavierkonzert hier, für ein frühes Streichquartett von Schubert da und für den Schlusssatz aus Brahms‘ vierter Symphonie dort etwas genauer beschrieben.

Dabei ging es mir nie um ausgefeilte musikwissenschaftliche Analysen. Dafür ist dieser Blog gar nicht der richtige Ort. Mich interessiert in diesem Text und auf diesem Blog, wie sich, was Komponist:innen komponieren, für uns Hörer:innen anhört.

Aus den oben genannten kleinsten Einheiten, nehmen wir ruhig zwei Takte, lassen sich – häufig sehr symmetrische – musikalische Gebilde bauen, die beim Hören den schönen Eindruck einer in sich schlüssigen Form vermitteln, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen in der Chronologie der Takte weiter nach vorne strebt – oder die innerhalb dieser Takte mehr oder weniger in sich ruht.

Wenn man das mit Worten beschreibt, klingt es viel abstrakter, als es sich anhört. Noch konkreter und fassbarer kannst Du Dir diese musikalische Logik machen, wenn Du versuchst, eine oder mehrere der Melodien für Dich zu singen, die ich – teilweise zumindest – in den oben verlinkten meiner Texte analysiert habe.

Und was soll das bringen?

Je häufiger Du Dir beim Hören klassischer Musik ihre Gliederung klar machst, und zwar durchs Hören und nicht durch die Noten, umso feiner werden die Unterschiede werden, die Du Dir nach und nach im Hören dieser Musik begreiflich machen kannst.

Musik als eine Kunst, die Formen in der chronologischen Folge ihrer Takte gestaltet, lässt sich meiner Erfahrung nach dann in besonders vielen ihrer Feinheiten genießen, wenn man anfängt, sie in ihrer inneren zeitlichen oder besser metrischen Gliederung zu hören und wahrzunehmen.

Dadurch bekommt man quasi einen Fuß in die Tür, um zum Beispiel weiterzuschauen, wie diese Gliederung denn melodisch, harmonisch oder rhythmisch funktioniert, wie die jeweiligen Komponist:innen in dieser Gliederung mit den verschiedenen beteiligten Instrumenten umgehen, wie sie aus kleinen Einheiten Themen bilden, diese Themen auseinander hervorgehen oder sie gegeneinander antreten lassen, um das ganze Drama vor unserem inneren Ohr zu entfalten, das zum Beispiel in einer Symphonie, einem Streichquartett oder einer Klaviersonate liegen kann.

Das wirklich Interessante dabei ist, dass man irgendwann anfängt, innerlich so zu hören, dass man sich die Musik vorstellen kann, ohne sie noch wirklich singen zu müssen.

Du musst Musik natürlich nicht so hören. Aber gerade klassische Musik gewinnt beim Hören sehr an Kontur und auch an Schönheit, wenn Du probierst, wie es ist, wenn Du sie Dir in möglichst vielen ihrer Facetten innerlich vorstellst. Und das geht natürlich am besten, wenn Du Dich immer wieder aufmerksam mit ihr beschäftigst. (Das gibt übrigens die besten Ohrwürmer, die Du Dir vorstellen kannst!)

Die erste Symphonie von Jean Sibelius

Eine Symphonie, die mich seit meiner Schulzeit fasziniert, bei der ich aber erst nach und nach lerne, zu verstehen, wie sie gebaut ist und warum sie eine so phantastische Energie ausstrahlt, ist die erste Symphonie des finnischen Komponisten Jean Sibelius.

Es gibt unter diesem Link eine sehr gute Einführung zu dieser Symphonie, wie überhaupt die gesamte Website hervorragend über Sibelius und sein Komponieren informiert.

Jean Sibelius, einige Jahre vor der Komposition seiner ersten Symphonie
Jean Sibelius um 1890, via Wikimedia Commons

Deswegen konzentriere ich mich nur auf die Musik, hier auf den ersten Satz, aus dem sich Vieles von dem, was folgt, herleiten lässt, und das beginnt gleich mit der Klarinettenmelodie vom Anfang, bis Minute 1:24. Wenn Du genau hinhörst, kannst Du unter der Klarinettenmelodie einen Paukenwirbel hören.

Danach spielen die Geigen ein regelmäßiges, aber zügiges Tremolo. Und darüber folgt bald ein von Osmo Vänskä sehr flott dirigiertes Thema mit einer markanten Triole, zum ersten Mal bei Minute 1:32/1:33, dann bei 1:36/1:37, es ist mit der auf die Triole folgenden Schlussnote eine zweimal wiederholte nach unten stürzende Quart. (Das Feuerwehrintervall, Du weißt schon: ta-tü-ta-ta, dieses Signal besteht – häufig – aus Quarten.)

Diese nach unten stürzenden Quarten sind eines der markanten Motive dieses Satzes, im ganzen Orchester kommen sie wieder z. B. ab Minute 2:26/2:27 etc.

Das Minnesota Orchestra unter Osmo Vänskä spielt den ersten Satz aus der ersten Symphonie von Jean Sibelius.

Energie, Farben, Formen

Zwei Dinge sind es, die diesen Satz meiner Meinung nach einzigartig machen: die Art, wie er seine klangliche Energie immer wieder in Gesten wie der oben beschriebenen Triole bündelt. Und die Art, wie er den Klang immer wieder zwischen hell und dunkel wechseln lässt, manchmal von einem Moment auf den anderen.

Aber hörst Du auch, wie Sibelius in diesem Satz aus kleinen Einheiten größere Zusammenhänge bastelt? Immer mal wieder kann man beim Hören einfach mitzählen. Und dann bekommt man einen besseren Überblick, wo im Satz man sich eigentlich grade befindet. Zeitgefühl eben.

Der finnische Dirigent Esa-Pekka Salonen hat in einer Dokumentation, die ich hier verlinke, davon gesprochen (ab Minute 15:07), dass die deutsch-österreichische musikalische Tradition ab Mozart, Haydn, Beethoven etc. durch eine blockartig und symmetrisch gegliederte musikalische Ordnung geprägt sei – was ich oben von Wolfram Steinbeck zitiert habe, beschreibt ähnlich im Grunde das gleiche Phänomen.

Laut Salonen gibt es diese aus Blöcken sich zusammensetzende symmetrische Ordnung bei Sibelius ab der zweiten Symphonie nicht mehr. Die Musik wächst, sagt Salonen, wie eine Pflanze oder wie ein Organismus.

Was ist Deinem Eindruck nach stärker im Kopfsatz der Ersten: die Logik der Blöcke, also der beim Hören mehr oder weniger klar identifizierbaren Gliederungseinheiten, die aufeinander aufbauen? Oder die flexible, vielleicht organische Art und Weise, Spannungsbögen zu schlagen, die Musik zu Energie werden zu lassen und ihre schiere Kraft zu inszenieren?

Pause

Nachdem ich jetzt ein Jahr lang Woche für Woche einen neuen Text für diesen Blog geschrieben habe, werde ich jetzt erst einmal eine kleine Pause einlegen.

Ich werde diesen Blog in der einen oder anderen Weise weiterentwickeln. Mal schauen, wie. Ich denke an neue inhaltliche Schwerpunkte, neue Formate oder auch Auskopplungen in Form eines Newsletters. Auch Kommentare werde ich hier bei nächster Gelegenheit ermöglichen.

Wer mich persönlich oder über Social Media kennt, weiß, dass ich in der Zwischenzeit das ein oder andere Buch zurückgeben werde, Kaffee trinken – und Ideen tanken.

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