Das Capriccio BWV 992 von Johann Sebastian Bach
Es ist gar nicht so einfach, in klassischer Musik den Überblick zu behalten und nicht gleich wieder zu vergessen, was es war und wie das hieß, was da vorhin so schön war.
Bei der Orientierung helfen können Stücke mit einem Programm, einem Motto oder einem besonderen Titel. Solche Kompositionen gibt es in der Musik des Barock genauso wie in der Klassik, der Romantik oder in der Gegenwart.
Melancholie
Johann Sebastian Bachs »Capriccio sopra il Lontananza de il Fratro dilettissimo« ist ein Stück in freier Form »über die Abreise des sehr geliebten Bruders«.
Es könnte ein leiblicher Bruder des Komponisten gewesen sein, Johann Jacob Bach, der – mutmaßlich 1704 – in die Dienste des schwedischen Königs gehen sollte. Als nicht unwahrscheinlich gilt die neuere Deutung, dass es ein Freund des Komponisten war, den er mit Bruder anredete. Ihren Reiz hat auch die Vorstellung, dass der Bruder der damals knapp 20-jährige Komponist selbst gewesen ist. Er könnte sich ja aus der Perspektive eines Alter Egos von sich selbst verabschiedet haben. Letztlich müssen wir das nicht entscheiden.
Das erste, was mich an diesem Stück gereizt hat, ist seine leichte Melancholie. Ob und wann sich die Brüder wiedersehen werden, wissen wir im Moment des Abschieds nicht. Aber wehmütig, wie Bach ihn vertont hat, dürfen wir annehmen, dass die Freunde gute Zeiten miteinander verbracht haben.
Die Stimmung des ersten Satzes ist bitter-süß und ein bisschen sehnsüchtig. Lebhaft ist dieser Satz in seiner Fülle an Verzierungen. So entsteht eine Art Lied ohne Worte, dessen Ornamente allerdings den Charakter des Instruments unterstreichen, auf dem das Stück gespielt wird.
Der zweite Satz mit seinen ebenfalls unüberhörbaren Verzierungen klingt auf dem modernen Klavier vielleicht weniger überzeugend als auf dem Cembalo, und den dritten stelle ich mir besonders eindrucksvoll vor, wenn er auf einer Orgel in einer geräumigen Kirche gespielt wird; es ist ein sehr langsamer, getragener Teil. Beim vierten favorisiere ich wieder das Klavier, weil auf ihm die klangliche Brillanz dieses Satzes am besten zur Geltung kommt.
Witz
Besonders einprägsam war mir von Anfang an außer dem ersten auch der vorletzte Satz dieses Capriccios. Dort wird die Motivik des Kopfsatzes fortentwickelt. Außerdem finden sich ähnliche Zierfiguren wie dort. Dieses Mal aber sind sie kombiniert mit häufig wiederholten Sprüngen von oben nach ganz weit unten. Falls es Dich interessiert: Die dauernd wiederholten Hüpfer – einmal der obere Ton, zweimal der untere – das sind Oktavsprünge (Hörbeispiele sind unten verlinkt).
Es ist ein ziemlich witziger Satz, weil er mit den allereinfachsten Mitteln eine große Leichtigkeit in die Abschiedsmelancholie dieser Komposition zaubert. Erst geht es tonleiterartig im Quintraum nach oben. Dann geht es tonleiterartig nach unten. Danach folgen die erwähnten Oktavsprünge. Und zwischendrin gibt es immer wieder Verzierungen, damit es nicht zu langweilig wird. Dieses Muster wird wenig variiert.
Für Hörer:innen, denen das zu trivial ist, hat Bach zum Schluss noch eine Fuge komponiert. In sie hinein hat er ganz unauffällig die Oktavsprünge des Vorgängersatzes geschmuggelt.
Hörweisen
Ich möchte Dir drei Arten vorschlagen, wie Du dieses Stück hören kannst:
- Denk nicht weiter drüber nach. Ich gebe zu: So hab ich damit angefangen. Und ich war damit lange völlig zufrieden. Ob Du dieses Stück nebenbei hörst oder konzentriert mit voller Aufmerksamkeit, ist meiner Erfahrung nach erst einmal ganz egal. Es lohnt sich so oder so.
- Orientiere Dich an den Satzüberschriften. Halten die, was sie versprechen? Die erste überzeugt mich nicht so recht. Ich kannte sie lange gar nicht. Und jetzt ist es ein bisschen so wie mit Literaturverfilmungen: als hätte ich erst das Buch gelesen und dann die Verfilmung gesehen, wobei mich die Verfilmung ein bisschen enttäuscht. Allerdings erklärt die Überschrift des vorletzten Satzes gleich, dass seine raffinierte Monotonie mit dem Fahrer der Postkutsche zu tun hat, dessen Posthorn Bach in den Oktavsprüngen imitiert. Besonders gut hört man das in der Fassung für Orgel.
- Du kannst die unterschiedlichen Fassungen auch vergleichen: Gleich unten in den Fußnoten findest Du Links zu den Versionen für Klavier, Cembalo und Orgel. Mir gefallen die Klavieraufnahmen sehr gut, z. B. die von Leon Fleisher, Friedrich Gulda oder Rudolf Serkin. Die Orgel klingt für mich dagegen ungewohnt, aber überzeugend. Was hältst Du von der Version für Cembalo?
Viel Spaß beim Hören!
P. S. Um nicht gleich zu viel zu verraten, zitiere ich erst hier das
Programm
Das Capriccio über die Abreise des sehr geliebten Bruders erzählt in den Satzüberschriften eine Geschichte. Sie entfaltet die Abschiedsszenerie weiter, die der Titel der Komposition angedeutet hatte:
- Arioso, Adagio. Ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben von seiner Reise abzuhalten
- Ist eine Vorstellung unterschiedlicher Casuum, die ihm in der Fremde könnten vorfallen.
- Adagiosissimo. Ist ein allgemeines Lamento der Freunde
- Allhier kommen die Freunde, weil sie doch sehen, daß es anders nicht sein kann, und nehmen Abschied.
- Allegro poco. Aria del Postiglione
- Fuga all’imitazione della cornetta di postiglione
Fußnoten
Eine Abschrift von Johann Christoph Bach, einem Bruder Johann Sebastians:
Fassung für Klavier, gespielt von Leon Fleisher:
https://www.youtube.com/watch?v=NnYNjhkBNiw
Fassung für Orgel mit Benjamin Alard:
https://www.harmoniamundi.com/capriccio/de/
Fassung für Cembalo (mit Noten), es spielt Edward Smith: