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… in der Luft

Der Beginn von Beethovens Symphonie Nr. 1

Ludwig van Beethoven ist relativ früh berufsunfähig geworden, teilweise zumindest. Schon mit 30 Jahren war er derart schwerhörig, dass ihn das zunehmend behindert hat. Sei es im Umgang mit Menschen. Sei es am Klavier, das er so virtuos beherrschte wie damals vielleicht kein Zweiter.

Beim Komponieren aber muss er die Musik, die ihn beschäftigt hat, innerlich mit einer Klarheit gehört haben, die ich rätselhaft finde und die mich immer wieder fasziniert.

Nichts hören

Ein solches ›inneres Ohr‹ hat der Komponist Moritz Eggert in einem Beitrag für die neue musikzeitung als eine Voraussetzung für jedes wirkliche Komponieren bezeichnet. Das innere Ohr sei die Fähigkeit, sich Töne und Klänge vorzustellen, ohne sie auf einem Instrument ausprobieren zu müssen.

Die englische Komponistin und Musikschriftstellerin Imogen Holst schreibt in ihrem ABC der Musik ebenfalls über dieses unsichtbare Hörorgan:

»Jeder Musiker – sei er nun Komponist, Sänger oder Instrumentalist – muss sein ›inneres Ohr‹ derart ausbilden, dass er sich im Geist den Klang eines jeden Tons vorstellen kann, genauso wie ein Maler in einem verdunkelten Raum jede Farbe des gesamten Spektrums vor seinem geistigen Auge sehen kann.« 

Die Musik vor der Musik

Mit seiner ersten Symphonie setzt Ludwig van Beethoven sein musikalisches Vorstellungsvermögen besonders geistreich in Szene.

Diese Symphonie nämlich lässt er mit einem Klang beginnen, der sich anhört wie ein Dominantseptakkord. Der ist an sich nicht ungewöhnlich. Erwartbar aber wäre, dass die Musik sich erst zu ihm hin entwickelt.

Durchwinken würde man ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, kurz vor dem Ende einer musikalischen Phrase. Ein Klang wie dieser ist der Schritt vor der Ziellinie, die letzte Anstrengung vor der Grundtonart. Es muss zumindest die Kenner:innen zur Zeit Beethovens irritiert haben, dass diese Erste nicht in der Grundtonart beginnt, sondern irgendwo dazwischen.

Es kommt dann noch merkwürdiger. Der Beginn dieser Ersten klingt zwar wie ein Dominantseptakkord. Er funktioniert aber als Zwischendominante. Die löst sich nicht in die Grundtonart auf, sondern nach F-Dur.

Danach dauert es ein paar Takte, bis Beethoven über eine elegant erweiterte Kadenz zur tatsächlichen Dominante gelangt: G-Dur. Bevor es überhaupt losgeht, schweift Beethoven also erst einmal ab.

›Ich höre was, was Ihr nicht hört‹  

Wer das Orchester mit einer Zwischendominante anfangen lässt, für den liegt Musik schon in der Luft, bevor der Dirigent den Taktstock heben soll. So gesehen schweift Beethoven eben gerade nicht ab. Eher nimmt er einen Faden auf, den er nicht selber gesponnen hat. Er zollt der musikalischen Tradition vor ihm seinen Respekt, ohne sie nur matt zu kopieren.

Haydn und Mozart zum Beispiel hatten ihre Symphonien immer einmal wieder mit einer langsamen Einleitung begonnen. Aber sofern ich nichts übersehen habe, haben sie tonal nie so freischwebend und unverbindlich wie Beethoven eingesetzt. (Etwas mehr zu solchen Einleitungen setze ich in die Fußnoten.)

Beethoven kennt die musikalische Tradition. Er erweist ihr seine Reverenz. Und er setzt noch einen drauf, indem er unaufwändig, aber provokant in sie eingreift.

Wumms

Das kann man frech finden. Auf jeden Fall selbstbewusst. Einige der Rezensenten von damals dürften bei der Uraufführung dieser Symphonie im allerersten Moment wahrscheinlich ungläubig dreingeschaut haben. Mit dieser Einleitung aber hat Beethoven es geschafft, Musik zu komponieren, die taktvoll auch ein Publikum packen und vielleicht irritieren kann, das dieses Stück zum ersten Mal hört.

Ersthörer:innen heute wie damals können in dieser harmonisch so raffiniert eingefädelten Einleitung förmlich dabei zuschauen, wie dieses Stück einen majestätischen Spannungsbogen zeichnet, dessen Leichtigkeit daher rührt, dass er ganz buchstäblich ein bisschen in der Luft hängt.

Die Grundtonart, C-Dur, erreicht Beethoven im Kopfsatz dieser Ersten direkt nach dem Ende der langsamen Einleitung. Den ersten, mittelleisen Wumms des neuen Abschnitts lässt Beethoven mehrfach wiederholen. Und er schlägt damit – von einem Moment auf den anderen – ein viel schnelleres Tempo an.

Fußnoten


Langsame Einleitungen finden sich vor Beethoven u. a. in Haydns Symphonien Hob. I:50, I:73 »La Chasse«, I:92 »Oxford« oder I:102. Sie beginnen jeweils in der Grundtonart.

Interessanter sind unter den Vorzeichen dieses Textes zum Beispiel Haydns Symphonien Hob. I:98 und Hob I:101 »Die Uhr«. Sie lässt Haydn nicht in der angekündigten Grundtonart, sondern mit deren Mollvariante beginnen.

Mozart wiederum hat in seiner »Linzer« Symphonie KV 425, die eigentlich in C-Dur steht, eine Art unauffälligen Vorboten von Beethovens Erster komponiert.

Nach dem vorgeblichen Grundton c und der scheinbaren Terz e bringt er auf einmal das a und damit den Grundton der Mollparallele. Danach wechselt er in einen G-Dur-Sextakkord. So erreicht er eine Form der Dominante zu C-Dur. Dann steigt die Basslinie teils chromatisch weiter nach unten.

Hier ein Clip mit Partitur zum Mitlesen:

https://www.youtube.com/watch?v=ThY-JK10nrc

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