»Die fünf Finger« von Igor Strawinski
Igor Strawinski war ein streitbarer Komponist, dem sein Handwerk wichtig war und der von Inspiration allein nicht viel gehalten hat. In seiner »Musikalischen Poetik« legt er von Anfang an viel Wert auf Ordnung.
Ordnung
Kontur gewinnt dieser Begriff bei Strawinski dadurch, dass er ihn polemisch gegen Komponisten ausspielt, die seinem Sinn für Ordnung nicht entsprechen, zum Beispiel Richard Wagner:
»Das Werk Wagners hat eine Tendenz«, so Strawinski, »die (genau gesprochen) nicht die Unordnung erstrebt, sondern den Mangel an Ordnung zu ersetzen sucht.« (S. 44)
Strawinski erläutert die misslingende Ordnung des musikalischen Materials bei Wagner daran, wie letzterer Melodien handhabt: Wagner schreibe eine Musik, die in ihrem dauernden Werden »weder einen Grund hat anzufangen noch aufzuhören.« (ebd.)
Die Melodie bei Wagner kennt keine Grenzen. Sie verliert im Grunde ihre Funktion, wie Strawinski behauptet. Die Funktion, so sagt er, sei »der musikalische Gesang einer taktmäßig abgegrenzten Periode.« (ebd.)
Wagners Art zu komponieren stößt im Bereich der Melodie in Strawinskis Augen deswegen an Grenzen, weil sie sich selber gerade keine Grenzen setzt. Grenzen aber müsse sie sich setzen, da das »Organ«, mit dem wir Musik wahrnehmen, selbst begrenzt ist.
Freiheit
Strawinski geht es zwar auch um das Ohr bzw. die Aufnahmefähigkeit seines Publikums. Mehr aber interessiert ihn der Prozess des Komponierens und die Aufgabe derer, die komponieren.
Im Gegensatz zu einer Methode, die sich den »Launen der Einbildungskraft« hingibt (S. 45), sieht Strawinski seine Aufgabe darin, aus dem, was ihm die Einbildungskraft liefert, auszuwählen, es zu ordnen und in Form zu bringen:
»[D]enn die menschliche Aktivität muß sich selbst ihre Grenzen auferlegen. Je mehr die Kunst kontrolliert, begrenzt und gearbeitet ist, um so freier wird sie.«
Das klingt alles sehr plausibel. Einzig, warum solche Grenzen ausgerechnet Freiheit erzeugen sollen, kann im ersten Moment irritieren.
Strawinski unterscheidet allerdings zwischen einer Art Zügellosigkeit der Einbildungskraft, die ihn beim Komponieren schlichtweg überfordert, und einem Sinn für Ordnung, der ihm Handlungsspielräume eröffnet, weil er sich an den konkret verfügbaren musikalischen Elementen orientiert: die Töne einer Tonleiter, betonte und unbetonte Taktzeiten etc.
Ein Beispiel dafür, dass man Ordnung hören kann, bilden Strawinskis Klavierstücke »Les 5 doigts« (»Die fünf Finger«). Die Grundidee ist einfach: Die Finger der rechten Hand verändern während jedem der acht kurzen Stücke nicht ihre Position.
Das erleichtert beim Hören das Gliedern des musikalischen Verlaufs – der Melodien! Aber wo sind die Grenzen von Strawinskis Melodien?
Im Katalog von Helmut Kirchmeyer gibt’s sehr gut aufbereitete, genauere Infos zu diesen Stücken.
Und hier findest Du meinen Text über György Ligetis Musica ricercata. Das sind 11 Stücke für Klavier solo, in denen Ligeti die Ordnungsfrage stellt, indem er seinen Tonvorrat zunächst auf nur ein bzw. zwei Töne beschränkt (plus Oktavierungen), dann auf drei, auf vier etc.