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Stell Dir vor!

Versuchsanordnung zur Alpensinfonie von Richard Strauss

Richard Strauss ist einer der bekanntesten Komponisten von Programmmusik: Das ist Musik, die über sich selbst hinauswill. Sie will, könnte man sagen, Literatur sein, aber nur aus Tönen. Programmmusik umfasst u. a. Vertonungen von Romanen, Dramen usw., für großes Orchester, aber ohne Gesang. Solche Vertonungen heißen Symphonische Dichtungen oder Tondichtungen. Von Strauss stammen zum Beispiel die Tondichtungen »Also sprach Zarathustra«, »Macbeth«, »Till Eulenspiegel« oder auch die Komposition »Eine Alpensinfonie«.

Richard Strauss, Portraitfoto
Richard Strauss in jungen Jahren

Strauss war nicht der Erste, der solche Dichtungen komponiert hat. Zu seinen Vorläufern gehören zum Beispiel Hector Berlioz oder Franz Liszt.

Häufig bezieht sich Programmmusik auf literarische Texte, die – jedenfalls im 19. Jahrhundert – zur Allgemeinbildung der bürgerlichen Gesellschaft gehörten. Dass alle, die darüber redeten, Nietzsches Zarathustra, Shakespeares Macbeth etc. auch gelesen hatten, halte ich trotzdem für unwahrscheinlich. Aber das Tolle an Tondichtungen war und ist ja, dass sie eine Art Best-of der von ihnen vertonten Inhalte musikalisch aufbereiten – für alle, die diese Inhalte kennen oder erst noch kennenlernen wollen.

Filmmusik ohne Film

Es liegt nahe, die Musik von Strauss und überhaupt programmatische Musik so anzuhören, dass Du versuchst, Dir das Programm dazu vorzustellen: Bilder, Figuren, Schauplätze, Handlungen, Emotionen, Stimmungen, äußere oder innere Kämpfe usw. Programmmusik ist dann so etwas wie Filmmusik, nur ohne den Film. Den Film stellst Du Dir selber dazu vor, so genau, wie möglich oder nötig.

Du bist die Regisseurin, der Kameramann oder zumindest der Chef für den Bildschnitt. Das Drehbuch hat der Komponist oder wer auch immer sonst zusammengestellt, auf der Grundlage eines literarischen oder philosophischen Textes.

Im Fall der Alpensinfonie von Richard Strauss ist das zwar etwas komplizierter. Es gibt nämlich mehrere Texte, die für die Musik von Bedeutung sind. Selbsterklärend aber sind die Überschriften zu den einzelnen Teilen dieser ›Sinfonie‹:

Nacht – Sonnenaufgang – Der Anstieg – Eintritt in den Wald – Wanderung neben dem Bache – Am Wasserfall – Erscheinung – Auf blumigen Wiesen – Auf der Alm – Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen – Auf dem Gletscher – Gefahrvolle Augenblicke – Auf dem Gipfel – Vision – Nebel steigen auf – Die Sonne verdüstert sich allmählich – Elegie – Stille vor dem Sturm – Gewitter und Sturm, Abstieg – Sonnenuntergang – Ausklang – Nacht

Solche Überschriften sind aber natürlich keine strikten Vorgaben. Niemand schreibt Dir vor, was Du Dir tatsächlich vorzustellen hast. Ich würde sogar sagen, dass gute Programmmusik auch hörenswert ist, wenn die Gedanken dabei frei schweifen, ohne dass man sich zwingend irgendetwas dazu vorstellt.

Um zu testen, wie zwingend ihre Bilder komponiert sind, kannst Du auch ausprobieren, Dir zu einer guten Programmmusik zumindest ein, zwei Szenen vorzustellen, die der Komponist, in dem Fall Strauss, sich so womöglich überhaupt nicht vorgestellt hat.

Versuchsanordnung: Debussys Alpensinfonie und La mer von Strauss

Probiers aus, ich garantiere Dir, es ist aufschlussreich – versuch mal, falls Du Lust hast, Dir zum Anfang von La mer die Berge vorzustellen, vor allem aber, zum Beginn der Alpensinfonie das Meer (Debussys berühmtes Stück bietet eine gute Möglichkeit, zu vergleichen – und ja, klar, von Debussy ist La mer und die Alpensinfonie von Strauss):

Claude Debussy: La mer, Marie Jacquot dirigiert das WDR Sinfonieorchester.
Richard Strauss: »Eine Alpensinfonie«, Semyon Bychkov dirigiert das WDR Sinfonieorchester.

Vielleicht geht es Dir ganz anders als mir. Aber vielleicht geht es Dir auch ähnlich.

Mir geht es so, dass ich nicht von Anfang an genau und mit Sicherheit entscheiden könnte, welche Komposition jetzt das Meer und welche die Berge darstellen soll; dabei kenne ich beide Kompositionen seit längerer Zeit ganz gut.

Für meine Unsicherheit gibt es Gründe: Beide Kompositionen beginnen bei Tagesanfang, die Alpensinfonie inszeniert einen Sonnenaufgang, Debussys erster Teil aus La mer ist überschrieben mit Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer. Beide Stücke beginnen relativ leise und bieten wenige klangliche Konturen.

Man kann leichten Nebel assoziieren oder auch die Phase vor dem Sonnenaufgang, wenn es schon hell wird, die Sonne aber noch nicht sichtbar und die Farben noch verschlafen sind. Welche Landschaft genau das sein soll, ist – mir jedenfalls – nicht von Anfang an klar.

In beiden Stücken kann ich mir verlassene Landschaften vorstellen, bei Debussy zum Beispiel eine Gebirgslandschaft. Sie ist eher karg und duldet nur wenige Pflanzen, ein paar Fliegen schwirren durch die Luft. Die Hitze des Tages ahne ich schon. Eher sehe ich die Pyrenäen als die bayerischen Alpen. Ca. ab Minute 1:10 kann ich das Meer nicht mehr ignorieren, ich denke an Wellen, Wasser in Bewegung und vielleicht an Sonnenstrahlen, die sich auf der Wasseroberfläche spiegeln.

Und das Meer in der Alpensinfonie?

Ob Debussys La mer im strengen Sinn Programmmusik ist, darüber kann man streiten. Mir geht es hier nur um den Vergleich, wie beide Komponisten am Anfang ihrer Stücke völlig unterschiedliche Landschaften darstellen.

Wenn ich La mer höre, denke ich bald an Wellen, Wasserspritzer, Wogen und dauernde, tendenziell kontinuierliche, aber in sich kreiselnde Bewegungen. Dass die Zeit vergeht, merkt man quasi am Stand der Sonne. Debussy schildert Impressionen.

Anders Strauss. Er komponiert – laut Programm – einen klaren und auch sehr klar strukturierten Handlungsverlauf. Aber ich teste auch hier, ab wann ich wirklich Berge sehe: Wenn das Stück von Strauss beginnt, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie ein großes Segelschiff langsam durch das Wasser pflügt. Man sieht nicht viel. Aber wenn man aufs obere Deck steigt, ahnt man schon hinterm Horizont die Sonne. Das Auf und Ab der Melodien in den Blasinstrumenten stellt meiner Meinung nach nicht zwingend Berge und Täler dar. Das könnten gut auch Wellen sein. Und über welcher Landschaft genau die Sonne aufgeht, ist in der Musik von Strauss für meine Ohren nur deswegen klar, weil über dem Stück eben Alpensinfonie steht.

Wenn ich dieses Stück höre, kann ich mir fast fünf Minuten lang sehr gut eine Meerlandschaft vorstellen, inklusive Kameraarbeit mit Blickregie. Die Musik gibt es her, für mich jedenfalls. Erst ab Minute 4:00 taucht ein markantes Motiv auf, das ich nicht automatisch in der Test-Landschaft unterbringe. Die unregelmäßig punktierten, weit ausschreitenden Motivketten ab Minute 4:00 durchkreuzen vorerst meine Pläne, mir mein eigenes Programm zu dieser Musik zusammenzustellen. Das könnten Wanderschritte sein, unregelmäßig, weil der Untergrund felsig, uneben und von Wurzeln durchzogen ist.

Experiment gescheitert?

Trotzdem verbindet beide Kompositionen mehr als nur ihr diffus-leiser Beginn, in dem sich unsere Wahrnehmung allmählich scharf stellt: In beiden Stücken geht es nicht unbedingt nur um eine naturgetreue Widerspiegelung von Landschaften. Stattdessen dreht sich die Musik auch um unsere Wahrnehmung und unsere oft unwillkürlichen Reaktionen beim Blick auf diese Landschaften.

Dass ›malerische‹ Musik, die Gegenstände aus der Natur darstellt, auch und gerade die Eindrücke und Empfindungen zum Ausdruck bringt, die den Menschen in der Natur überfallen können, ist nicht neu. Damit kann man spätestens seit Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 6, der »Pastorale«, rechnen. Den ersten Satz seiner berühmten Sechsten hatte er überschrieben mit: »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande«. Über die Symphonie schrieb er: »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei«.

In dem Moment aber, in dem nicht Natur selbst lautmalerisch nachgeahmt wird, sondern deren Wirkungen auf den Menschen zum musikalischen Thema werden, kann man fragen, ob denn jeder Naturgegenstand zwingend einen ganz eigenen, von allen anderen möglichen Eindrücken unterschiedenen Eindruck hervorruft – oder ob eben bestimmte Typen von Naturgegenständen für zumindest vergleichbare, wenn auch vielleicht nicht völlig gleiche Eindrücke sorgen, das Meer zum Beispiel und Gebirge, wie oben kurz beschrieben.

Den inneren Film selbst drehen

Das Faszinierende an Programmmusik ist nicht nur, dass sie ein Stück weit bestimmte Inhalte in Töne setzen kann, sondern dass sie den mit diesen Inhalten verbundenen Empfindungen Raum gibt, die die besagten Inhalte in uns auslösen können. Ohne dass wir es vielleicht gleich im ersten Moment merken, vertont Programmmusik auch Emotionen, Affekte und Stimmungen, die mit ihren programmatischen Inhalten einhergehen. Vordergründig bietet Programmmusik Bilder an, im Hintergrund aber läuft der Soundtrack dazu – und der tut mehr als nur zu untermalen.

Programmmusik orchestriert unsere Gefühle. Das kann etwas fies Manipulatives haben, aber auch etwas Befreiendes. Programmmusik ist Filmmusik ohne Film deswegen, weil sie, wie Filmmusik, einen Soundtrack bildet zu einem inneren Film, der vom Programm dieser Musik nicht bis in alle Bilddetails vorgegeben ist.

Komponist:innen sind häufig sehr gut darin, bestimmte Naturgegenstände zu evozieren, z. B. durch markante Effekte (Kuhglocken!), bildhafte Nachahmung von Naturgeräuschen (z. B. einen Wasserfall) oder andere Lautmalereien (vgl. das Gewitter in Beethovens »Pastorale« mit dem Gewitter bei Strauss.)

Interessant wird’s in den Phasen, in denen Komponist:innen allgemeiner werden, indem sie zum Beispiel bestimmte emotionale Reaktionen in Töne setzen, die weniger auf eine konkrete Landschaft verweisen und mehr auf den oder die, die sich ihr aussetzen: Vertont ein musikalisches Gewitter beispielsweise eher das Naturereignis oder auch, wie der Donner uns erschreckt, wenn er plötzlich ganz nah ist? Und verweist die Gipfelszene bei Strauss nicht auch auf eine Person, die sich einerseits einer prachtvollen Aussicht gegenübersieht, die aber andererseits klein und introvertiert wird dabei? (Könnte die Szene auch auf dem Meer spielen?)

Programm der Alpensinfonie – Strauss flüchtet sich in die Berge

Wenn man sich nur die Überschriften anschaut, die die einzelnen, klar gegliedert ineinander übergehenden Abschnitte der Alpensinfonie betiteln, scheint die Alpensinfonie nichts als eine ausgedehnte Wanderung auf einen Berggipfel und wieder zurück darzustellen. Und das tut sie auch.

Zwar wollte Strauss das Stück eine Zeitlang »Der Antichrist, eine Alpensinfonie« nennen (nach Friedrich Nietzsche). Eine Künstlertragödie hat für die Ausarbeitung der Komposition ebenfalls eine Rolle gespielt. Und ja, »Eine Alpensinfonie«, fertiggestellt 1915, gibt sich ziemlich desinteressiert an der katastrophalen politischen Situation der damaligen Zeit. Stattdessen schaut diese Komposition demonstrativ zurück – um zumindest vordergründig nichts als die nackte Naturerfahrung in Töne zu setzen.

»Diese Art Abschiedsfeier von einem nur noch scheinbar intakten, zur Attrappe gewordenen Weltbild ist für mich nicht weniger apokalyptisch und hellsichtig erhellend als jene Musik, die den Bruch vollzieht, so dass musikalische Sprache aus den Trümmern der alten sich neu definiert, wie wir es bei Schönberg, Berg, Webern, aber auch bei Charles Ives erlebt haben.«

Helmut Lachenmann

https://www.beckmesser.info/helmut-lachenmann-und-die-alpensinfonie/

Aber was Richard Strauss mit der Musik tut, indem sie allein die besagte Bergwanderung in Töne setzt, ist trotzdem aussagekräftig und weist über die bloße Naturdarstellung weit hinaus.

Indem die Alpensinfonie eine Bergwanderung komponiert, schildert sie mehr als nur einen Weg durch die Alpen. Mit allen instrumentalen Mitteln setzt sie die existenzielle Beziehung in Szene, die ein Mensch mit der Natur eingehen kann, indem er sich ihr aussetzt. Diese Beziehung birgt ihre Risiken. Aber in ihr liegt eben auch die Möglichkeit, dass wir uns selbst als Teil dieser Natur erfahren.

Das ist bei Strauss in einer bruchlosen, geradezu zynisch naiven Schönheit komponiert, die die Natur des 19. Jahrhunderts evoziert und damit eine Epoche, die schon damals längst vergangen war. Strauss aber hatte sie wohl noch sehr gut in Erinnerung.

Als früher Auslöser für die Alpensinfonie gilt in manchen Quellen eine Wanderung, die Strauss als Jugendlicher in den bayerischen Voralpen unternommen hat. Dabei war er in ein Gewitter gekommen und musste die Nacht in einer Hütte in Schlehdorf verbringen.

Erstmals musikalisch verarbeitet hat er dieses Erlebnis auf dem Klavier, gleich als er wieder zu Hause war, »[n]atürlich riesige Tonmalereien und Schmarrn«. Das war 1879. Damals war Strauss 15 Jahre alt – und er hatte seine ganze Laufbahn als Komponist erst noch vor sich.

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