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Ruhe, von der ich zehren kann

Gustav Mahlers Neunte

Ich bin ein Gewohnheitstier und verbringe meinen Urlaub gerne in den Bergen. Während des Studiums war ich mit zwei Freunden im Harz unterwegs – Sommer für Sommer in der gleichen Ferienwohnung (die mit dem Kneippbecken auf der Wiese hinter dem Haus) bei Frau Schoppe, einer leutseligen und sehr netten älteren Dame (inzwischen leider verstorben) in Braunlage. Wir blieben fünf, sechs Tage. Und wenn möglich sind wir einmal pro Urlaub auf den Brocken gewandert.

Ich bin den beiden Freunden noch heute dankbar dafür, dass wir das so lange miteinander ausgehalten haben; es waren im Ganzen ca. 10 Jahre. Und wir haben es möglicherweise alle hin und wieder auch als kleine Kur empfunden, auch wenn wir es nicht jedes Mal so genannt hätten.

Seit ich wenige Jahre später, 2015, den schriftlichen Teil meiner Promotion abgeschlossen hatte, verbringe ich jedes Jahr ein paar Sommerwochen in Osttirol 20 Minuten hinter Lienz in einer Berghütte auf ca. 1500 m. Wenn ich zuverlässig telefonieren können oder gar ins Internet will, muss ich 500 m nach oben steigen oder fahren. Oder ich fahre gleich hinunter nach Lienz, setze mich ins Café Glanzl und gönne mir eine Mozarttorte.

Entspannung pur

An Urlaubsroutinen habe ich schätzen gelernt, dass sie schon greifen, bevor ich überhaupt verreist bin: Ich kenne die Gegend gut und scharf sind die Bilder der Berge, die mir vor die Augen treten, während ich an letzten Terminsachen vor der Sommerpause schwitze. Wenn ich in dieser Zeit den viel zu großen Bücherstapel fürs Gebirge vorbereite, fängt der Urlaub an, mich in den Fingern zu jucken. Und im Grunde könnte das kurz vor der Abfahrt folgende, routinierte Packen schon Entspannung pur sein – wenn es sich nicht auch heuer wieder in der üblichen Höllenhektik zugetragen hätte. Vor dem Urlaub hat man ja noch keinen Urlaub. Und wirklich schön und erholsam ist es erst, wenn man dort ist.

Ich mag es, auf einen Berg zu steigen. (Meine Frau auch. Unser Sohn nicht immer so.) Ich mag die Aussichten und Panoramen, aber auch das schiere Gehen. Ich mag Anstiege, die so steil sind, dass ich an wenig Anderes denken kann als daran, einen Schritt vor den anderen zu setzen, einigermaßen ruhig zu atmen und möglichst die nächste Markierung nicht zu verpassen.

Vor allem mag ich die Stille auf dem Berg, wenn nach der abwechslungsreichen Monotonie des Aufstiegs die Gedanken, auch die schmerzhaften, sich beruhigt haben. Das ist eine Ruhe, von der ich zehren kann.

Mahlers Neunte

Eine Musik, die das weder illustriert noch unmittelbar zum Ausdruck bringt, die zu hören der Erfahrung einer solchen Ruhe aber nahekommen kann, ist die neunte Symphonie von Gustav Mahler. Das ist ein echt anstrengendes, teils verstörendes Stück, das ich nicht immer vollständig hören will, weil es mir manchmal einfach zu viel ist.

Ich habe vor einigen Jahren sehr gerne eine Konzerteinführung über diese Symphonie gehalten. Im Konzert war ich dann nicht. Es war Sommer. Ich war urlaubsreif. Mit dem Packen hatte ich noch nicht angefangen. Und ich hatte in dem Moment einfach keine Antennen, um mich dieser krassen und fordernden Musik so zu widmen, dass ich wirklich etwas davon gehabt hätte.

In sehr guter Erinnerung habe ich diese Neunte trotzdem, weil ich sie viel früher, ganz am Anfang meines Studiums einmal in einer tollen Generalprobe gehört habe.

Um uns darauf vorzubereiten, haben wir den Schlusssatz gemeinsam im Seminar angehört. Ich erinnere mich, wie laut die Uhr an den leisen Stellen getickt hat – passend und unpassend zugleich. Und ich erinnere mich, wie wir uns gegenseitig beim Zuhören zugehört haben.

Mahlers Schlusssatz ist ein wunderbarer, langsamer Orchestergesang ohne Worte, ein wahnsinnig schönes Stück Musik, das für die Strapazen mehr als nur entschädigt, mit denen die Symphonie das Publikum bis dahin konfrontiert hat.

Stille

Am Ende der Probe muss es – aber daran erinnere ich mich nicht mehr – eine Weile still gewesen sein; anders kann ich mir das gar nicht vorstellen. Im Konzert lässt sich diese Stille direkt nach dem Schlusssatz schier endlos dehnen, je nachdem, wie gespannt und aufmerksam Publikum und Orchester zusammenspielen. Eine Freundin war damals im Konzert. Und sie hat erzählt, dass der Dirigent tatsächlich sehr lange gewartet hat, bis er die Arme gesenkt hat, um die Stille nach dem Schlusssatz zu beenden. Jemand hat wohl aus Versehen sofort losgeklatscht, aber gleich wieder aufgehört. Erstaunlich immer wieder, wenn es klappt, dass nicht gleich geklatscht wird. Aber irgendwann muss man wahrscheinlich einfach applaudieren, um sich gemeinsam wieder ins Hier und Jetzt zu holen.

Wir jungen Studis damals nach der Generalprobe waren, glaube ich, ganz ergriffen, aber auch erleichtert und gut gelaunt. Draußen schien die Sonne. Der Tag war frisch und hell. Vermutlich sind wir irgendwo einen Kaffee trinken gegangen, um wieder zurück in den Alltag zu finden.

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