Emilie Mayer und ihre Symphonie Nr. 7
Emilie Mayer war zu ihrer Zeit als der weibliche Beethoven bekannt. So zitieren es gar nicht wenige Beiträge, die über die Komponistin u. a. im Internet kursieren. Ist es ein Kompliment, der weibliche Beethoven gewesen zu sein?
Nur Beethoven, echt jetzt?
Einerseits ja, klar: Ein solcher Ehrentitel suggeriert, dass Emilie Mayer, die im 19. Jahrhundert lebte, zumindest ähnlich gut komponiert hat wie Beethoven, und das eben auch in Gattungen, in denen der große Meister – und das war er ja auch – Maßstäbe gesetzt hat – speziell auf dem Gebiet der Symphonie, aber nicht nur dort.
Andererseits kann man ein solches Beethoven-Etikett, mindestens wenn es von Männern vergeben wird, im ersten Moment auch ein bisschen herabwürdigend finden, wenn auch auf eine vielleicht etwas ratlos wohlwollende Art: War Emilie Mayer zwar ein Beethoven, aber eben nicht der echte, sondern nur der weibliche? Und waren ihre Kompositionen wirklich so gut wie seine?
»Lieber Ludwig, Sie waren mega-cis.«
Ludwig van Beethoven (1770-1827) hatte kein einfaches Leben. Aber er hatte gegenüber Komponistinnen wie Emilie Mayer (1812-1883) den Vorteil, dass er sich nicht für seinen Beruf rechtfertigen musste, nur weil er ein Mann war.
Inwieweit ihm das auf dem damaligen Musikmarkt geholfen hat, ist eine Frage, die man gar nicht beantworten muss. Tatsache ist, dass es ihn eben nicht behindert hat.
»Bitte verstehen Sie’s nicht falsch«, so schrieb Nora Gomringer in einem erfrischenden Brief an Ludwig van im Beethoven-Jahr 2020,
»aber derzeit rollt man ueber alte weisse Maenner die Augen. Das wird auch wieder anders, aber im Moment nehmen diese Typen, die lebenden und die toten, ihre Echos und ihre Schatten viel Raum im kollektiven Gedaechtnis ein und das nervt viele, weil es jetzt nicht nur auffaellt, sondern eben auch eine grosse Lobby gegen diese Weissruecken gibt, dieser grosse Zweifel um die grosse Einseitigkeit aller Brauchtumspflege, allen Erinnerns, aller Cis-Problematik. Cis – damit ist nicht der Ton gemeint! Sondern die eindeutige Eindeutigkeit des Geschlechts. Ach, tauchen Sie da gar nicht erst ein. Sie waren mega-cis. Glauben Sie’s mir.«
Im Gegensatz zu all den heute lange ›toten weißen Männern‹ konnten Komponistinnen zur Zeit Beethovens und mindestens in den Jahrzehnten danach nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit ihren Beruf wählen oder gar ausüben. Und das lag daran, dass der neu entstehende Beruf des freien Komponisten in der Öffentlichkeit damals im Allgemeinen tatsächlich nur für Männer reserviert war, auch wenn es viele Frauen gab, die ihrerseits komponierten. Fanny Hensel und Clara Schumann waren bei Weitem nicht die einzigen.
Der weibliche Beethoven – es kann nur Einen geben!
Unter den Komponisten nach Beethoven hat sich so mancher Mann genötigt gesehen, Nachfolger oder gar Erbe Beethovens zu werden oder sich sonstwie gegenüber dem großen Meister zu positionieren. An ihm kam einfach kaum einer vorbei, und sei es deswegen, weil die gestrenge und fachkundige Musikkritik im 19. Jahrhundert gelernt hatte, Beethoven als einen der mustergültigen Komponisten der damaligen Zeit zu verinnerlichen, an dessen Werk sich – auch unausgesprochen – Vieles, was danach kam, messen lassen musste.
Nur konnten letztlich alle Beethoven-Nachfolger, wenn sie nicht Epigonen sein wollten, Beethovens Erbe bloß untereinander aufteilen, um daraus etwas jeweils Eigenes zu schaffen.
Gegenüber solchen Ambitionen hatte Emilie Mayer, anders herum betrachtet, den unschlagbaren Vorteil, etwas zu sein, was nicht einmal Beethoven selbst war, nämlich eine Frau.
Und nur so gewendet ergibt das Kompliment als solches wirklich Sinn: Unter all den (vergleichsweise wenigen) öffentlich sichtbaren Frauen und (gar nicht wenigen) bekannten Männern in den Jahrzehnten nach Beethoven war es Emilie Mayer – und, soweit ich sehe, niemand sonst -, die inzwischen wiederentdeckt wurde als eine Komponistin, die es geschafft hatte, zu ihrer Zeit schon einmal als weiblicher Beethoven bekannt geworden zu sein.
Auf das Klingelschild zu ihrer Wohnung in Berlin hat sie 1850 »Emilie Mayer, Componistin« geschrieben. Die schönsten Komplimente macht ›man‹ sich eben immer noch selbst.
Emilie Mayers Lehrer
Geboren wurde Emilie Mayer 1812 als Tochter eines Apothekers und von dessen Ehefrau. Gelernt hat sie u. a. bei Carl Loewe. Er ist heute bekannt als »Pommerscher Balladenkönig«. Und manche seiner Lieder mit Klavierbegleitung liebe ich wirklich sehr, zum Beispiel seine Vertonung von Goethes »Erlkönig«. Ihn hat auch Emilie Mayer vertont, während sie bei Loewe Unterricht hatte.
Ein weiterer Lehrer wurde später Adolf Bernhard Marx in Berlin.
In einem Tagungsband mit dem Titel Der »männliche« und der »weibliche« Beethoven aus dem Jahr 2003 hat die Musikwissenschaftlerin Martina Sichardt über Mayers Zeit bei Marx geschrieben und über die Rolle, die Marx im Berliner Musikleben spielte.
Marx, der u. a. eine Beethoven-Biographie verfasst hat, wirkte einige Jahre lang als Herausgeber der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung. Und er war ein renommierter Kompositionslehrer. Er hat eine Kompositionslehre in vier Bänden verfasst, in der er Beethoven als mustergültigen Vollender der Sonatenform feiert.
Als Emilie Mayer im Jahr 1847 in Berlin eintraf, war diese Kompositionslehre eben vollständig im Druck erschienen.
Es ist also – trotz unsicherer Quellenlage – durchaus anzunehmen, dass auch Emilie Mayer bei Marx u. a. am Vorbild Beethoven unterrichtet worden ist.
Wenn wir jetzt anfangen würden, Emilie Mayers Symphonien (nur) in Bezug auf ihre klassischen Vorläufer zu hören, würden wir der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts auf den Leim gehen. Das kann man machen, auch im 21. Jahrhundert.
Aber nur wegen Mayers Beethoven-Vergangenheit sind ja wir nicht genötigt, ihre Musik mit Ohren zu hören, die etwas von Beethoven erwarten. Allenfalls der Titel »weiblicher Beethoven« leuchtet umso mehr ein, wenn man um Mayers Zeit in Berlin weiß, zu der Beethoven als einer der musikalischen Überväter galt.
Adolf Bernhard Marx hat sich damals übrigens, so Martina Sichardt, dafür eingesetzt, Frauen den Zugang zum Kompositionsunterricht zu öffnen. Dafür waren sie nämlich seinerzeit gar nicht zugelassen.
Emilie Mayer und ihre Symphonie Nr. 7
Ich habe in den letzten Tagen einige von Emilie Mayers Symphonien angehört. Und ich habe den zweiten Satz aus ihrer Symphonie Nr. 7 als Hörbeispiel ausgesucht. Viele andere Sätze wären ähnlich hörenswert. Meine Auswahl ist kein Werturteil. Mir war nur grad nach etwas Melodischem.
Was mir an diesem Satz sofort auffällt, sind die schönen Melodien in den tiefen Streichern. Als nächstes bemerke ich, wie ab Minute 00:20 plötzlich Bläser die Streichermelodie nach oben weiterführen. Wenige Sekunden später klinken sich – wenn ich das ohne Partitur richtig mitbekomme – die Streicher wieder ein.
Der Satz ist in klar voneinander unterscheidbare Abschnitte gegliedert, im Großen wie im Kleinen, so zum Beispiel bis Minute 1:30. Während dieser Zeit wird das sangliche Thema wiederholt. Es ist zu schön, um es nur einmal zu spielen.
Dann, eben ab 1:30 folgt ein auf elegante Weise unwirscher Passus – das klingt tatsächlich ein bisschen wie Beethoven feminin. Danach klagende Schmerzensfloskeln, bevor ab Minute 2:00 auf eine stolze Fanfare innig instrumentierte Streicher-Bläser-Sequenzen antworten.
Dieses Adagio ist leicht fassliche Musik: gut nebenbei zu hören, gut, um sich von ihr tragen zu lassen, aber auch gut, wenn man versucht, jeden der fein gearbeiteten Abschnitte konzentriert von Anfang bis Ende einzeln zu genießen.
Es ist Musik, schön durchgearbeitet und gespielt, hellwach instrumentiert, und mit einem Gespür für Stimmungen komponiert, das ich mit meinen männlichen Antennen eventuell gar nicht voll und ganz würdigen kann.
Die erste nachweisbare Aufführung der Symphonie fand laut der Dissertation von Almut Runge-Woll aus dem Jahr 2002 im April 1862 in einem Symphoniekonzert der Liebigschen Kapelle in Berlin statt.