Zur Sarabande aus Debussys Pour le piano
Claude Debussy wäre, notierte sein Lehrer in Klavierbegleitung Emile Durand 1878, »ein ausgezeichneter Schüler, wenn er weniger unordentlich und leichtsinnig wäre«. Über Debussys Kantate L’Enfant prodigue, mit der der Komponist gerade den berühmten Rompreis gewonnen hat, schreibt 1884 der Figaro: »[D]ie Unordnung scheint eines der wichtigsten Prinzipien zu sein.« Und nach allen Regeln der Kunst verrissen wird im Jahr 1902 von mehreren Zeitungen die Uraufführung von Debussys Pelléas et Mélisande.
Wiederum Le Figaro differenziert dabei immerhin. Auf der einen Seite sieht er diejenigen, die Debussys Musik »trotz allem« verteidigen. Auf der anderen
»die Verehrer der Kunst, die finden, daß die Musik eine heilige Dreieinigkeit ist, deren Elemente, Melodie, Harmonie und Rhythmus, Gesetze sind, die man nicht unaufhörlich verletzen kann, zum Schaden der Vernunft und des Gehörs.«
Gesetze und Prinzipien? – Zur Musik von Claude Debussy
Heute gilt der französische Komponist Claude Debussy, der von 1862 bis 1918 lebte, als einer der großen Neuerer in der Musikgeschichte. Und man kann vermuten, dass die Rezensenten seiner Zeit das Neue in seiner Musik durchaus auch hörten. Sie nahmen es wahr, werteten es aber häufig ab.
Es verrät viel über ihren Blickwinkel, aber auch über den Wert, den sie der Musik generell zubilligten, sofern die Kritiker – wie oben zitiert – gleich mit so großen Begriffen wie Prinzipien, Gesetze oder Vernunft argumentieren.
In der Musik sollte bitte alles seine Ordnung haben. Stattdessen hörten die ihr Abgeneigten damals in Debussys Musik vor allem Konturlosigkeit, Auflösungserscheinungen oder Dekadenz.
Um der Musik von Claude Debussy auf die Schliche zu kommen, kann man auch eine Nummer kleiner anfangen und sich fragen, inwieweit Debussy dadurch zu einem Neuerer wurde, dass er das musikalische Material neu geordnet hat.
Noch einfach lässt sich fragen, ob er einfach neugierig auf Unregelmäßigkeiten war, die es in der Musikgeschichte schon lange vor seiner Zeit gegeben hat. (Skandalös!!)
Debussys Pour le piano
Claude Debussy hat in seiner Studienzeit sehr ordentlich Klavier gespielt. Er hat als Pianist und als Klavierbegleiter auf dem Konservatorium schon vor dem Rompreis Preise gewonnen. Mit der Zeit hat sich allerdings herausgestellt, dass es zum virtuosen Solisten nicht reichen würde.
Macht nichts. Debussy hatte sehr viel Anderes zu bieten. Unter anderem hat er einige phantastische Stücke für Klavier solo komponiert, darunter seine Préludes, die kleine Suite Children’s Corner oder zum Beispiel die ziemlich kniffligen Etüden, die sich teils eng begrenzten, spezifischen Details der Klaviertechnik widmen.
Auch seine Komposition Pour le piano ist, wie es der Titel schon sagt, (dt.) ausdrücklich »für das Klavier« geschrieben. Sie besteht aus drei Sätzen: Prélude, Sarabande, Toccata. Das sind jeweils Formen, die deutlich auf das musikalische Barockzeitalter verweisen. Im Ganzen wirkt Pour le piano wie eine kleine Suite. Im Barock war es üblich, Suiten – das sind Folgen von Tanzsätzen – durch ein Präludium zu eröffnen, um sie dann mit einer Folge von Tänzen zu füllen, darunter bspw. die Allemande, die Courante, die Sarabande, Menuette, Gavotten oder Bourréen und am Ende häufig eine Gigue.
Die Suite als Form war nicht so streng wie beispielsweise eine Fuge. Aber bestimmte Gepflogenheiten haben sich damals eben trotzdem herausgebildet. Als häufiger Bestandteil war die Sarabande, ein langsamer Tanzsatz im Dreiertakt, eine Art ruhevolles Zentrum einer instrumentalen Suite. Die anderen oben zitierten Tänze spielen meist in einem schnelleren Tempo.
Sarabanden von Rameau und Johann Sebastian Bach
Charakteristisches Merkmal einer Sarabande im Barock ist die Betonung auf der zweiten der drei Zählzeiten pro Takt. Das lässt sich in einer der schönsten Cembalosarabanden hören, die ich kenne, sie ist von dem französischen Barockmusiker Jean-Philippe Rameau.
Unten in den ersten beiden Takten ist der jeweils zweite Melodieton länger als die übrigen; es ist eine punktierte Viertel in einem Dreivierteltakt. Auf dem Cembalo lässt sich die Betonung nicht einfach durch Lautstärke erzeugen. Auch deswegen wird hier eben durch Länge betont. Der Rhythmus Viertel – (doppelt) punktierte Viertel – Achtel (bzw. Sechzehntel) kommt unten und generell in Sarabanden häufiger vor.
Eine weitere Strategie, die Zwei hervorzuheben, ist es, diese Zählzeit durch allerlei Verzierungen und Ornamente in den Mittelpunkt zu stellen, unten im Video ab Minute 1:15 – wobei schon ab Minute 1:00 die Verzierungen die Schwerpunkte auch ein Stück weit verschleiern, weil nicht nur militärisch präzise auf Schlag 2 verziert wird, sondern beinahe, wie’s gerade kommt:
Hier als Kontrast bette ich eine feine Sarabande von Johann Sebastian Bach ein, klar gespielt von Marc Coppey. Erkennst Du den Sarabandenrhythmus wieder, den auch Rameau oben schon benutzt hatte?
Die Sarabande aus Claude Debussys Pour le piano
Anders als bei einem Walzer oder einem Menuett spielen in einer Sarabande Takt- und metrische Schwerpunkte ein bisschen gegeneinander: Während der entscheidende Taktschwerpunkt üblicherweise auf der ersten Zählzeit liegt (auch bei Märschen im Viervierteltakt übrigens), liegt er bei der Sarabande auf der zweiten Zählzeit.
Dabei geht die erste aber natürlich nicht verloren. Nur balanciert die zweite sie mehr als aus. Und das verleiht der gesamten Rhythmik oft etwas graziös Schwebendes.
Debussys Komposition Pour le piano ist 1901 erschienen. Die Sarabande entstand aber schon im Jahr 1894. Um sie herum gruppiert hat Debussy im Werk von 1901 die anderen beiden Sätze, die beide ebenso sehr hörenswert sind.
Hier geht es mir aber nur um das eine Detail, wie Claude Debussy mit den Schwerpunkten spielt. Es ist meines Erachtens seine Art, eine kleine Unregelmäßigkeit in den Mittelpunkt einer Komposition zu stellen, deren Tonsprache noch viele weitere Besonderheiten aufweist. Jochen Scheytt hat das hier genauer aufgeschlüsselt.
Ich glaube, dass Claude Debussy nicht ohne Grund eine Sarabande zum Zentrum von Pour le piano gemacht hat. Der Rückgriff auf die barocke Form ist ein Signal unter mehreren, dass hier ein Komponist am Werk ist, der sehr genau weiß, wie er sein Material zu ordnen hat, der im ersten Schritt dabei nicht einmal besonders originell sein muss – und der es insgesamt trotzdem schafft, seine eigene Musiksprache mit einer geradezu traumwandlerischen Leichtigkeit als neu zu etablieren.
Hörst Du, wie nach der Eins die Zwei immer wieder eine neue Betonung setzt und dadurch die Schwerpunkte neu austariert?